Olpe/Gerlingen. Ali Atasoy aus Gerlingen hat viele Verwandte, die in der Erdbeben-Provinz Hatay leben. Er weiß, wie hilflos die Menschen sind.

Wenn der Name Ali Atasoy fällt, denken viele Olper an Thyssen Krupp in Lütringhausen. Dort war Atasoy einige Jahre Betriebsratsvorsitzender und musste mit erleben, wie der Standort abgewickelt wurde. Atasoy, der deutscher Staatsangehöriger ist, hat türkische Wurzeln. Und zwar genau dort, wo in der Nacht zu Montag die Erde so heftig gebebt hat, dass viele tausende Menschen ihr Leben verloren oder kein Dach mehr über dem Kopf haben. Da weite Teile seiner Familie dort leben, bangte er viele Stunden um deren Leben. Was er seitdem in Erfahrung bringen konnte über die katastrophale Situation erzählt er uns im Interview.

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Herr Atasoy, Sie sind deutscher Staatsangehöriger mit türkischen Wurzeln. Fühlen Sie sich eher als deutscher Türke oder als türkischer Deutscher?

Ali Atasoy: Ich fühle mich eher als türkischer Deutscher. Ich habe zwar nur einen deutschen Pass, aber eigentlich zwei Heimatländer. Als wir die deutsche Staatsangehörigkeit für mich beantragt haben, war ich 14 Jahre alt, da hatten wir nicht die Möglichkeit zweier Staatsangehörigkeiten.

Wo genau stammt Ihre Familie her?

Aus Antakya in der Provinz Hatay, im Südosten der Türkei in der Nähe der syrischen Grenze. Der frühere Name Antiochia ist vielen Deutschen eher ein Begriff.

Wie viele Einwohner hat Antakya?

Etwas über 500.000. die Provinz über eine Million.

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Und die Stadt liegt mitten im Katastrophengebiet, nahe am Epizentrum Karamanmaras.

Ja, etwa 160 Kilometer entfernt.

Wie viel Prozent Ihrer Familie leben in Hatay und wie viel Prozent hier in Deutschland?

Etwa 30 Prozent hier, etwa 70 Prozent in Hatay.

Wie stark sind sie vom Erdbeben betroffen?

Fast alle direkt und sehr heftig. Aber, nachdem, was wir bisher wissen, ist niemand ums Leben gekommen. Wir haben untereinander von allen ein Lebenszeichen. Das ist ein großes Glück.

Von wie vielen Menschen sprechen wir, wenn wir von Ihrer Familie sprechen?

Rund 150. Wir sind für türkische Verhältnisse eine eher kleine Familie.

Und wie viele von den in Hatay Lebenden sind vom Erdbeben betroffen?

Alle. Niemand hat mehr ein Dach über dem Kopf.

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Wie müssen wir uns das vorstellen? Sind sie alle rechtzeitig aus ihren Häusern geflüchtet?

Ja, sie haben es Gott sei dank alle früh genug bemerkt. Es war gegen 4 Uhr morgens. Mein ältester Onkel mütterlicherseits wohnt mit seiner Frau in der ersten Etage eines mehrstöckigen Reihenhauses. Sie waren die einzigen, die rausgekommen sind. Er hat jedenfalls niemand mehr gesehen. Er hat einen leichten Schlaf, und sie sind barfuß mit Schlafanzug rausgelaufen. Er hat uns erzählt, er habe niemand anderen aus dem Haus kommen sehen, bevor es eingestürzt sei.

Und wo ist Ihr Onkel jetzt untergekommen?

Ich habe noch weitere Verwandtschaft in Tarsus am Mittelmeer. Rund 200 Kilometer von Hatay entfernt. Und diese Verwandten haben es geschafft, einen Teil unserer Leute in Sicherheit zu bringen. Es ist logistisch aber sehr schwer.

Wann haben Sie in der Nacht zum Montag überhaupt erfahren vom Erdbeben?

Um kurz nach 5 Uhr morgens hatte mich meine Mutter, die in Gerlingen direkt neben uns wohnt, schon per Handy angeschrieben. Sie war von ihrer Schwester informiert worden. Und gegen 9 Uhr morgens hatten wir schon eine Whatsapp-Gruppe installiert, mit Verwandten in Gerlingen, Olpe, Bielefeld und Hamburg.

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Wie viele Verwandte sind jetzt in dieser Whatsapp-Gruppe?

So etwa 60. Und wir haben sofort den Kontakt in die Türkei geknüpft, so dass wir sehr breit informiert wurden. Dadurch wussten wir sehr schnell, wer lebt, wer irgendwo fest steckt, wer Hilfe braucht.

Und zum großen Glück haben Sie keine Todesmeldung in Ihrer Familie verkraften müssen?

Nein. Verletzte hat es gegeben. Aber wenn man sich in einer solchen Situation ein Bein oder einen Arm bricht, relativiert sich das.

Kennen Sie noch andere türkischstämmige Olper, die Verwandte in der Krisenregion haben?

Jede Menge. Und viele von denen, die hier in Olpe und Wenden leben, haben tatsächlich viele Verwandte in der Region Kahramanmaras, also dem Epizentrum des Bebens, sowie in Gaziantep ganz nah dabei.

Jenseits der Ohnmacht: Wie kann jeder Hilfswillige hier am besten helfen?

Ich weiß es nicht. Aber ich möchte das an dieser Stelle hervorheben. Ich war gerührt, als ich bemerkt habe, welche Reaktion es in Deutschland gegeben hat. Es ist überwältigend, wie schnell Spenden und Hilfstransporte auf den Weg geschickt wurden. Man konnte ja kaum noch irgendwo Hilfsgüter abgeben, weil alle Lager schon voll waren.

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Wie leisten Sie innerhalb Ihrer Familie Hilfe für Ihre Verwandten?

Über den Roten Halbmond, der großen türkischen Hilfsorganisation, haben wir in Tarsus ein Fahrzeug organisiert. Jeden Tag fährt dieses Auto ein- oder zweimal täglich von Tarsus nach Hatay mit Hilfsgütern wie Bekleidung, Zelten, Sprit, der ganz wichtig ist. Denn für die Menschen, die ihre Häuser verloren haben, aber ihren Wagen noch besitzen, ist Sprit fast das Wichtigste. Dieses Auto gibt die Hilfsmittel ab und nimmt zehn bis 15 Menschen mit zurück nach Tarsus. Dort gilt es dann, Obdach zu finden. Transporte haben wir auch per Schiff organisiert. Von Adana fahren mehrere Schiffe bis nach Hatay und bringen bis zu 50 Menschen pro Fahrt aus dem Erdbebengebiet heraus.

Kennen Sie Schätzungen, wie viele Menschen ihr Leben in Hatay verloren haben?

Offizielle Angaben kennen wir nicht. Was aber darüber hinaus sehr schlimm ist: Die erste wirkliche staatlich organisierte Hilfe kam erst am Dienstag dort an.

Wie kalt ist es dort derzeit?

Von den betroffenen Erdbebenregionen ist Hatay noch die wärmste. Aber selbst dort ist es nachts unter Null Grad. Wenn es in den nördlicheren Gebieten schneit, regnet es bei uns.

Wie funktioniert die Organisation der Behörden?

Sehr schleppend. Alle Menschen wollen helfen, aber es ist wenig bis nichts organisiert. Viel passiert über Whatsapp-Gruppen. Die rufen sich gegenseitig an und sagen, was sie gerade wo brauchen. Eine funktionierende, zentral gesteuerte Hilfslogistik sehe ich derzeit nicht. Wir bekommen mit, dass Hilfe in Antakya ankommt, aber nicht in den umliegenden Dörfern. Da kommen die Helfer nicht hin. Die Menschen dort sind immer noch auf sich alleingestellt. Sie hören Stimmen unter den Trümmern, und es bleibt ihnen nur, mit den eigenen Händen wegzuräumen, was sie schaffen. Das ist wirklich furchtbar.

Waren die türkischen Organisationen völlig unvorbereitet? Im Ahrtal hat in Deutschland vieles auch unorganisiert gewirkt.

In diesem Fall glaube ich, ja.

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Aber der vorderasiatische Raum ist ja keine Region, in der Erdbeben völlig fremd sind.

Ja, aber in unserer Stadt hat es ein ähnliches Erdbeben, soweit es Aufzeichnungen gibt, vor mehr als 800 Jahren gegeben. Mit so etwas hat niemand gerechnet.

Sind die Gebäude in der Erdbebenregion instabiler als wir das aus Deutschland kennen?

Auf jeden Fall. Zumindest die, die vor 2010/2011 gebaut worden sind. Ab da wurde genauer hingesehen und auch auf Stabilität geachtet. Natürlich wird auch bei uns Stein auf Stein gebaut, mit Beton. Aber wer kontrolliert, wenn beim Bau gespart wird, ob genügend Stahl verwendet wird oder wie viel Zement.

Sie waren Betriebsratsvorsitzender von Thyssen Krupp in Lütringhausen. Haben die ehemaligen Kollegen noch Kontakt und könnte man ein solches Netzwerk für eine Hilfsaktion aktivieren?

Das ist denkbar. Der Kontakt ist noch da. Heute habe ich in unserer Whatsapp-Gruppe einen Aufruf gestartet, ob jemand die Hilfe unterstützen möchte.

Als Lager könnten ja die leeren Thyssen-Krupp Hallen dienen.

Wenn wir da rein kämen.

Wenn die betroffenen Menschen das Erdbebengebiet vorübergehend verlassen können, wird es dann eine Art Mini-Flüchtlingswelle nach Deutschland zu ihren Verwandten geben?

Ich würde es mir jedenfalls wünschen. Wir alle sind bereit, unsere Leute aufzunehmen. Aber, so gerne ich dieses Deutschland auch habe, in dem Fall ist die deutsche Bürokratie eine wesentliche Hürde.

Inwiefern?

Deutschland ist das Land der Papiere. Ich habe schon mal bei der Ausländerbehörde angeklopft und nachgefragt, welche Möglichkeiten es gebe für einen Aufenthaltsstatus. Und dabei wurde mir gesagt, es gehe nur über ein Touristenvisum.

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Und das ist, vermute ich, derzeit schwierig.

Fast unmöglich. Um ein solches Touristenvisum zu beantragen, müssten unsere Leute mindestens nach Ankara fahren. Da kommen sie gar nicht hin. Aber wir haben gehört, es werde politisch diskutiert, die Hürden herunterzufahren und zu vereinfachen, nur für Menschen aus der Katastrophenregion. Ich würde es mir wünschen. Man könnte es ja zeitlich begrenzen. Aber es wäre für die Menschen dort ein Silberstreif am Horizont. Viele haben Todesopfer zu beklagen, kein Obdach, keine Existenz mehr, nur noch ihr eigenes Leben.

Planen Sie, vielleicht sogar selbst in die Türkei zu fahren?

Ja, ich werde nächste Woche fliegen.

Wenn jemand helfen will, kann er sich an Sie wenden oder an wen sonst?

Wer will, kann an meine Paypal Geld senden: ali.a@mein.gmx oder an: https://gofund.me/b066a219