Olpe. Jan Goebel, Arzt aus Olpe, erklärt, warum die Booster-Impfung für alle ein Ausweg aus der Pandemie sein kann und ein „Freedom Day“ zynisch ist.

Die Zahl der Corona-Neuinfektionen ist erwartungsgemäß im Herbst wieder stark gestiegen. Eine Gegenmaßnahme soll die schnellere Durchführung von Booster-Impfungen sein. Erst am Mittwoch hat sich Gesundheitsminister Jens Spahn mit Ärzteverbänden darauf geeinigt, dass allen, die vor sechs Monaten vollständig geimpft worden sind, ab sofort eine Auffrischungsimpfung angeboten werden solle. Gleichzeitig wurde in dieser Woche die Maskenpflicht an NRW-Schulen abgeschafft. Ein Spannungsfeld, das für viele nicht nachzuvollziehen ist. Auch nicht für Jan Goebel, Internist und Hausarzt in der Praxis am Imberg in Olpe.

Im Interview erklärt der 42-jährige Mediziner, wieso die Booster-Impfung sinnvoll ist, warum die Impfung trotz der hohen Quote an Impfdurchbrüchen durchaus effektiv ist und warum das Land auf erneute Schulschließungen zusteuert.

Wie viele Booster-Impfungen hat Ihr Team bislang durchgeführt?

Jan Goebel: Aktuell sind es etwas mehr als 500.

Das klingt aber schon viel…

Ehrlich gesagt war ich etwas enttäuscht. Wenn man bedenkt, dass wir das „Wohngut Osterseifen“ betreuen und dort bereits fast 200 Auffrischungsimpfungen verabreicht haben. Wir gehen aber davon aus, dass ein großer Schwung im Dezember/Januar kommen wird, weil viele im Sommer ihre Impfserie abgeschlossen haben und sechs Monaten nach der zweiten Impfung der Booster empfohlen wird.

Können auch noch nach der Booster-Impfung Nebenwirkungen auftreten?

Das ist sehr individuell. Die Nebenwirkungen gehen von Schmerzen an der Einstichstelle bis zu Infektsymptomen wie Fieber, Glieder- und Kopfschmerzen, die ein, zwei Tage andauern. Es ist auch sehr individuell, wer das nach welcher Dosis bekommt. Es gibt Menschen, die haben die ersten beiden Impfungen sehr gut vertragen und fühlen sich dann plötzlich bei der Auffrischungsimpfung sehr schlapp. Da gibt es keine Regel und auch noch kein System, um das vorherzusagen.

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Die Bevölkerung scheint zunehmend beim Thema Impfdurchbrüche beunruhigt zu sein. Es heißt zwar, dass die Impfung nicht vor einer Infektion, wohl aber vor schweren Verläufen schützt. Gleichzeitig lagen zuletzt vier von acht Covid-Patienten im Krankenhaus, die vollständig geimpft waren. Wie ist das zu erklären?

Die Erklärung für dieses scheinbare Impfversagen liegt in der absoluten Zahl der Geimpften und Ungeimpften. Es sind vor allem Menschen über 60 Jahre, die einen schweren Verlauf bekommen und ins Krankenhaus müssen. Das ist die Patientengruppe, die zu über 85 Prozent geimpft ist. Das heißt, die Population der geimpften Menschen ist viel größer als die der Ungeimpften. Wenn man dann schaut, dass aus der großen Gruppe der zu 85 Prozent Geimpften nur die Hälfte der Infizierten, jedoch aus der Gruppe der verbliebenen 15 Prozent Ungeimpften die andere Hälfte der Infizierten stammen, dann sieht man deutlich, dass die Ungeimpften im Verhältnis viel häufiger erkranken. Wenn über Fälle von Impfdurchbrüchen berichtet wird, entsteht der Eindruck, dass die Impfung nicht effektiv sei. Aber genau das Gegenteil ist der Fall.

Machen Booster-Impfungen Impfdurchbrüche unwahrscheinlicher?

Nach einem halben Jahr lässt der Impfschutz deutlich nach. Dies betrifft vor allem die über 60 Jährigen. Das sieht man an den steigenden Impfdurchbrüchen in dieser Altersgruppe. Deswegen muss man jetzt reagieren und dafür plädieren, dass diese Menschen sich jetzt unbedingt boostern lassen müssen. Die zweifache Impfung hätte mit der Alpha-Variante wahrscheinlich ausgereicht. Die Delta-Variante hat das aber verändert. Letztendlich wird es so sein, dass die Grundimmunisierung aus drei Impfungen bestehen wird.

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Und wenn aus Delta Epsilon wird?

In der WHO-Nomenklatur sind wir schon bei der Lambda-Variante angekommen. Grundsätzlich kann es sein, dass es nochmal einen Varianten angepassten Impfstoff geben werden muss. Nach jetzigen Erkenntnissen sieht es aber so aus, dass man mit drei Impfungen lange geschützt ist. Man geht davon aus, dass die vorhanden Varianten relativ stabil bleiben. Und das auch über die nächsten Jahre.

Also sind die Infektionszahlen gar nicht so besorgniserregend?

Wir haben eine Überdiagnostik. Dadurch erfassen wir automatisch asymptomatisch Infizierte. Das ist in der Pandemie prinzipiell gut, weil die Infizierten natürlich dazu beitragen, dass sich das Virus verbreitet. Aber letztendlich geht es um die Hospitalisierung, also um die Menschen, die schwer erkrankt ins Krankenhaus kommen. Was wir momentan aber beobachten, ist analog zu den vorigen Wellen. Es gibt wieder eine Übertragung von den Jungen zu den Älteren, die letztendlich ins Krankenhaus müssen. Die Inzidenz, Hospitalisierungsrate und Sterberate sind noch nicht vollständig entkoppelt. Und deswegen sind wir auch noch nicht durch mit der Pandemie. Das können wir erst mit den Booster-Impfungen erreichen. Wenn die Über-60-Jährigen alle ihre Auffrischungsimpfungen erhalten, dann könnten wir wahrscheinlich diese Entkopplung sehen – und dann wäre die Inzidenz auch nicht mehr maßgebend.

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Wie erleben Sie Ihre Patienten in einer Zeit, in der die Infektionszahlen wieder in die Höhe schießen? Sind sie beunruhigt oder hat mittlerweile ein Gewöhnungseffekt eingesetzt?

Ich finde, dass eine gewisse Normalisierung eingetreten ist. Andererseits nimmt man in Gesprächen schon wahr, dass Sorgen mitschwingen. Es ist keine Alarmstimmung wie vor eineinhalb Jahren, wo die Straßen wie leer gefegt waren. Jetzt geht es mehr in die Richtung, wozu diese Zahlen führen könnten. Droht ein neuer Lockdown? Überlebt mein Lieblingsrestaurant? Das scheint die Leute aktuell mehr zu beschäftigen.

Sie sind selbst Vater von zwei schulpflichtigen Kindern. Wie sinnvoll finden Sie es, dass in dieser Woche die Maskenpflicht an Schulen abgeschafft wurde?

Dass bei einer Aerosol-Infektion mit einem starken saisonalen Effekt – also mit steigenden Infektionszahlen im Herbst – die Maskenpflicht an Schulen abgeschafft wird, ist aus meiner medizinischen Einschätzung nicht zu erklären. Zumal der überwiegende Großteil ungeimpft ist. Mit Mundschutz haben sich schon oft die Sitznachbarn infiziert. Ohne Mundschutz läuft die ganze Klasse Gefahr, in Quarantäne geschickt zu werden. Damit steuern wir auf Schulschließungen zu. Das, was wir nie wieder machen wollten, provozieren wir gerade. Ich hatte nicht das Gefühl, dass es einen gesellschaftlichen Druck zur Abschaffung der Maskenpflicht gegeben hat. Wenn selbst elfjährige Kinder sich dafür entscheiden, die Maske freiwillig weiter zu tragen, sollte man meinen, dass Menschen, die das entscheiden und seit über eineinhalb Jahren mit der Pandemie umgehen müssen, es besser wissen müssten.

Gleichzeitig soll die pandemische Lage im November auslaufen. Es wurde sogar schon von einem „Freedom Day“ im März 2022 gesprochen. Ist das realistisch?

Ich habe ein Problem mit dem Begriff „Freedom Day“. Es spiegelt nicht die Realität wider. Wir befinden uns in einer Pandemie. Nur, weil wir in unseren Industriestaaten schon bald alle Menschen zum dritten Mal geimpft haben könnten, heißt es nicht, dass alles wieder gut ist. In Entwicklungsländern liegt die Impfquote immer noch bei etwa drei Prozent. Natürlich ist es gut, wenn wieder mehr Leben zugelassen wird. Wir sind alle pandemiemüde. Aber wir müssen vorsichtig im Winter sein. Ansonsten fliegt uns das alles spätestens Anfang nächsten Jahres wieder um die Ohren. Das wäre sicherlich sehr bitter, weil wir dann aus den letzten beiden Jahren nichts gelernt hätten.

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Manche Impfskeptiker warten auf einen Totimpfstoff gegen Corona. Wie stehen Sie dazu?

Definitionsgemäß ist ein mRNA-Impfstoff auch ein Totimpfstoff, weil er keine vermehrungsfähige Virenpartikel enthält. Von Impfskeptikern hört man gelegentlich, dass diese auf herkömmlich hergestellte Totimpfstoffe warten, die z.B. bestimmte Virusbestandteile enthalten. Hier wird übersehen, dass dies auch neue Impfstoffe mit völlig unklarem Nebenwirkungen sein werden. Klassisches Beispiel für einen solchen nebenwirkungsreichen Totimpfstoff ist „Pandemrix“, der gegen das Schweinegrippevirus entwickelt wurde. Im Nachgang traten bei einigen Menschen als Nebenwirkung Narkolepsie, also eine Erkrankung, die durch anfallsartiges plötzliches Einschlafen gekennzeichnet ist, auf. Die Herstellung von Totimpfstoffen ist länger bekannt und deswegen vertrauen Impfskeptiker diesem Impfstoff eher. Wenn sie jetzt aber auf einen Totimpfstoff warten, ist das mit medizinischen Argumenten nicht nachvollziehbar. Besonders da die mRNA-Impfstoffe weltweit seit fast einem Jahr in einer Größenordnung von mehreren Milliarden Dosen verimpft wurden und das unter enger wissenschaftlicher und medialer Überwachung mit sehr geringen Raten von schweren Nebenwirkungen. Diese Impfstoffe sind sicher und hocheffektiv.