Hagen. Ursula Luttenberger lief als Mädchen mit den Freunden vor dem Haus hin und her. Messerstecher hieß das Spiel, das sie spielten. Oben in der Wohnung stand der deftige Möhreneintopf auf dem Tisch. Dann heulten die Sirenen. Flieger auf dem Rückweg über Hagen, sagten die Erwachsenen und blieben zunächst gelassen.
Aber am Mittwoch, 28. Februar 1945, waren es keine Verbände, die ihre tödliche Fracht über einer anderen Großstadt abgeworfen hatten. Es waren Bomber, die aus Richtung Südosten angeflogen kamen, um Hagen in Schutt und Asche zu legen.
„Es war so gegen halb drei“, sagt Ursula Luttenberger (79). Sie ist eine Frau mit einem ganz ausgezeichneten Gedächtnis. Sie ist eine der Zeitzeuginnen, die Horst Klötzer, ehrenamtlicher Mitarbeiter im Historischen Centrum, befragt hat. „Wir sind rein ins Haus und runter in den Keller. Mein Bruder musste die Haupthähne für Gas und Wasser abdrehen. Da flogen auch schon die ersten Bomben. Das Pfeifen höre ich noch heute.“
Eine Bombe traf das Haus
Der Sauerstoff wurde knapp. In dem Raum, in dem das Mädchen und ihre Familie kauerten, war stockfinster. Dann traf die Bombe das Haus und fiel genau auf einen Stahlträger. „Hier“, sagt Ursula Luttenberger und fährt mit dem Zeigefinger über eine Schwarz-Weiß-Fotografie des Gebäudes aus dem Jahr 1939, auf der ihr Vater aus dem Fenster schaut, „hier wurde unser Haus abgesäbelt.“
Der Vater schleifte Ursula Luttenberger und ihre Mutter durch ein Kellerfenster ins Freie. „Er hatte noch einen Mann vom Sicherheitsdienst gebeten, ihm zu helfen“, sagt Ursula Luttenberger, „aber dem war es zu gefährlich, ins zerstörte Gebäude zu krabbeln.“
Schutzbunker geöffnet
Mitbekommen hatte das „Urselchen“, wie Ursula Luttenberger damals genannt wurde, davon nichts. Sie hatte das Bewusstsein verloren. Ihr Puls war kaum zu spüren. „Mein Vater dachte, ich sei tot“, sagt sie. „Ein Mann hat mich an den Beinen gepackt und auf mich eingeschlagen. Man hat mich mit Wasser abgespritzt, bis ich wieder zu mir kam.
Vater hat nach Bombenangriff noch 14 Tage lang fantasiert
Dieser Tag ist ein Schlag für die Familie. „Heute“, sagt Ursula Luttenberger, „kann man sich das kaum vorstellen. Wir haben ein Zimmer bei Verwandten bezogen. Mein Vater lag 14 Tage lang im Bett und hat fantasiert. ,So schwere Körper schleppen’ hat er immer wieder gesagt. Meine Mutter musste für die Verwandten putzen. Die haben uns regelrecht ausgebeutet.“
In den engen vier Wänden hielt es Ursula nicht aus. „Ich bin in den Stollen unter Altenhagen gezogen“, sagt sie, „ich habe da die ganze Zeit gelebt, hatte da einen festen Platz auf einer der langen Bänke. In einen Keller hätten mich keine zehn Pferde mehr gekriegt.“
Berge von Toten lagen in den Straßen
Ursula Luttenberger war nicht die einzige, die ihren Lebensmittelpunkt in einen Schutzraum verlagerte. „Irgendetwas brummte immer in der Luft. Man war ständig in Alarmbereitschaft“, sagt sie, „zu essen hatten wir in dieser Zeit fast nichts. Mein Bruder hat uns etwas organisiert. Er hat für uns geklaut.“
Im Stollen erlebte Ursula Luttenberger auch den Großangriff am 15. März mit. „Die Erde hat regelrecht gebebt“, sagt sie, „wir wussten, dass es dem Ende zugeht. Die Nachrichtenübermittlung funktionierte. Mein Bruder hat mich nach dem Angriff mit in die Stadt genommen. Wir sind durch die Straßen gezogen und haben Berge von Toten gesehen.“
Amerikanischer Soldat verteilten Schokolade
Wenige Tage später nahm ein Tiefflieger das Mädchen ins Visier. „Der hatte wohl den Befehl, auf alles zu schießen, was sich bewegt“, sagt sie. Wie durch ein Wunder überlebte sie. Als im April die amerikanischen Panzer in die Stadt rollten, vibrierte der Boden. „Wir wussten, dass die US-Soldaten irgendwo sein mussten“, sagt Ursula Luttenberger, „dann fuhren sie vor dem Stollen vor. Oben auf der Kanzel saß ein Farbiger. Er gab uns ein Stück Schokolade und dann rollte der Panzer weiter.“
Jens Stubbe