Hagen. Martin M. hat Platte gemacht. So nennen sie das in der Wohnungslosen-Szene. Er hat draußen gepennt, auf Kartons, zugedeckt mit Zeitungspapier. Er gegen die Kälte der Nacht. Zwei Wochen lang. Jetzt ist er wieder zurück im Wohnbereich des Männerasyls in der Tuchmacherstraße. Der Kopf sei jetzt wieder frei, sagt er. Frei für den nächsten Anlauf in ein anderes Leben.

Das Kopfsteinpflaster an der Springe ist ein Kippenschlucker. Die Filter der aufgerauchten Zigaretten sind vom Schuhwerk der Vorübergehenden tief in die Fugen eingearbeitet worden. Martin M. bückt sich. Seine breiten Finger hebeln einen der vielen Stummel aus den Pflasterritzen. Vorsichtig lässt er den Filter in seiner Jackentasche verschwinden. Zehn, zwölf Ritzen weiter wird er die nötigen Tabakreste für eine selbst gedrehte Zigarette zusammen haben.

Martin M. (44) und Björn W. (36) sind noch nicht, was man Freunde nennt. Noch nicht. „Wir sind eine Zweckgemeinschaft“, sagt W. Sie leben Tür an Tür im Männerasyl in der ,Tuche’, wie die Einrichtung in der Hagener Obdachlosen-Szene genannt wird. Zwei Männer, ein Ziel. Sie wollen zurück in ein normales Leben.

Die Drehbücher ihres bisherigen Lebens bieten traurigen Stoff. Martin M. arbeitete 18 Jahre bei einem großen Unternehmen im Lennetal. Er verdiente gutes Geld für harte Arbeit. Er lebte nicht in Schlössern und fuhr keinen Ferrari, aber die schönen Gelegenheiten des Lebens waren bezahlbar. Bis 2008 ein Vorschlag in seinen Briefkasten flatterte, der sein Leben veränderte.

Endstation Straße

„Die Firma bot mir an, mit einer Abfindung gehen zu können“, sagt Martin M. So viel Geld wollte noch niemand zuvor auf sein Konto überweisen. M. nahm an. Doch mit den schnellen Scheinen und Freizeit pur legte sich der heute 44-Jährige die Schlinge selbst um den Hals. Er verlor die Kontrolle, den Überblick, Freunde - und sein altes Leben. Gerade noch hatte die finanzielle Sorglosigkeit ihre Visitenkarte bei ihm abgegeben. Nun saß er auf der Straße.

Björn W. hat sich nicht verschätzt. Der gelernte Gas-Wasser-Installateur lebte in einem strukturierten Alltag. Zehn Jahre lang wohnte er mit seiner Freundin zusammen in einer schönen Wohnung in Hagen. Doch auf die Psyche des 36-Jährigen wirft die kindliche Vergangenheit dunkle Schatten. Die Störung trat immer deutlicher auf und ließ ihn alles verlieren. Job, Wohnung, Frau. Endstation Straße.

Der Weg zurück beginnt mit Erkenntnis

Heute ähneln sich die Tage von Björn W. und Martin M. Wenn sie die Zeit nicht auf ihren Zimmern im Männerasyl verbringen, ziehen sie durch die Straßen der Innenstadt. M. sammelt Flaschen, Zigarettenstummel und darf sich gelegentlich darüber freuen, dass ihm vor allem ausländische Bürger mal einen Euro zustecken. Er hat es zuletzt verpasst, Hartz IV neu zu beantragen. Aktuell geht kein einziger Euro auf seinem Konto ein. Björn W. hat 374 Euro monatlich zur Verfügung.

Das Gerüst, das es bräuchte, um sich wieder ein normales, ein geregeltes Leben aufzubauen, ist vorhanden. Beide Männer haben eine Berufsausbildung. Aber der Weg zurück in die Normalität beginnt nicht mit dem Gang zum Jobcenter. Er beginnt mit Erkenntnis. Mit vernichtender Ehrlichkeit zu sich selbst. Björn W. sagt: „Ich könnte eine Freundschaft nur schwer aufrechterhalten. Ich bin psychisch instabil und ich habe am meisten mit mir selbst zu tun.“ Diese Worte sind hart und es tut weh, wenn ein Mensch sie über sich selbst sagen muss. Aber sie sind der erste Schritt zurück ins Leben.

Kontakt zu Familien haben die Wohnungslosen abgebrochen 

In Zusammenarbeit mit der Wohnungslosenhilfe der Diakonie Mark-Ruhr in der Schulstraße rollen Björn W. und Martin M. ihr Leben von hinten auf. „Man muss erst verstehen, was mit einem los ist, ehe man sich wieder aufrichten kann“, sagt W. Der Kontakt zu ihren Familien ist abgebrochen. Die Mutter von Martin M. würde ihrem Sohn von heute auf morgen sofort helfen und zu sich aufnehmen. Doch M. scheut den Kontakt. Auch Björn W. spricht nicht mit seiner Familie. „Ich muss meinen eigenen Frieden finden“, sagt er.

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Es nieselt an dem Tag, als wir die beiden zum Interview-Termin treffen. Der Wind peitscht durch die enge Betonschlucht der Tuchmacher­straße, wo das Männerasyl angesiedelt ist. „Sie hat einen zu schlechten Ruf draußen auf der Straße“, sagt Björn W. Er meint die Tuche. Doch der Fall in die Existenslosigkeit lässt es nicht zu, wählerisch zu sein. „Außerdem“, sagt Björn W. „hat man hier tatsächlich alles, was man braucht.“

Baustelle Leben mit Hilfe der Diakonie

Womit er Recht hat. Geregelte Mahlzeiten. Ein Dach über dem Kopf. Eine wohlsortierte Kleiderkammer. Und, wenn man sich in den entsprechenden Hilfsmaßnahmen befindet, auch ein eigenes Zimmer. Mit betreutem Wohnen durch die Diakonie in Kostenträgerschaft des Landschaftsverbandes.

Sie schämen sich nicht für ihre Situation. Sie wissen, dass das Leben sie auf seinen kältesten Boden geholt hat. Das ist vor ihnen schon ganz anderen passiert. Chirurgen klopften schon an die Tür der Tuche. „In fünf Jahren“, sagt Björn W. „sehe ich mich wieder in einer eigenen Wohnung mit festem Boden unter den Füßen.“ Bis dahin wartet noch viel Arbeit auf der Baustelle, die bei ihm Leben heißt.