Hagen. Mit 58 verlor Buchdrucker Ingo Nünnerich seinen Job. Wie ein Mann, der auf dem Hagener Arbeitsmarkt ohne Chance ist, eine Perspektive findet.

Still steht die alte Holzwanne in der Papiermühle des Freilichtmuseums Hagen, doch Ingo Nünnerich verbindet sie mit einem rauschenden Fest. Gut vier Jahrzehnte ist es her, seit der gelernte Buchdrucker in dieser sogenannten „Bütte“ lag, rundherum seine Lehrmeister. Kurz zuvor hatte der Hagener seinen Gesellenbrief erhalten. „Nach der Lehre wurden wir in die Bütte getaucht, um von der Pein der Ausbildung rein gewaschen zu werden.“ Dieser Akt ist alte Tradition der Buchdrucker und wird als „Gautschfest“ feierlich zelebriert.

Beim Gautschfest im Hagener Frelichtmuseum wird Ingo Nünnerich nach seiner Gesellenprüfung 1983 in die Bütte „getaucht“. Ein Ritual des Buchdrucker-Handwerkes, das den Auszubildenden von seiner Pein während der Lehre rein waschen soll.
Beim Gautschfest im Hagener Frelichtmuseum wird Ingo Nünnerich nach seiner Gesellenprüfung 1983 in die Bütte „getaucht“. Ein Ritual des Buchdrucker-Handwerkes, das den Auszubildenden von seiner Pein während der Lehre rein waschen soll. © Nünnerich | Privat

„Gautchfest“ im Museum

Auf das Bad in der Bütt folgte die ‚innere Reinigung‘, die wohl weniger Überwindung kostete: „Dafür mussten wir einen halben Liter Bier trinken“, sagt Nünnerich und lächelt. Nie hätte der Buchdrucker gedacht, dass er für die letzten Jahre seines Berufslebens in das Freilichtmuseum zurückkehren würde. In der dortigen Druckerei erklärt er als Museumsführer den Besuchern sein Handwerk - nur wenige Meter entfernt von der alten Holzwanne, in der er einst als junger Mann lag.

Beim Gautschfest im Hagener Frelichtmuseum wird Ingo Nünnerich nach seiner Gesellenprüfung 1983 in die Bütte „getaucht“.
Beim Gautschfest im Hagener Frelichtmuseum wird Ingo Nünnerich nach seiner Gesellenprüfung 1983 in die Bütte „getaucht“. © Nünnerich | Privat

„Für mich ist es wie ein Neubeginn, eine Rückkehr zu den Wurzeln“, sagt der 62-Jährige. Dabei stand seine Zukunft noch vor wenigen Jahren in den Sternen. Denn in der Pandemie hatte er mit 58 Jahren seine Arbeit als Buchdrucker verloren.

Als Geselle angefangen

Für Nünnerich war es der Abschied von der Firma Werbedruck Passmann, die sein Berufsleben geprägt hat: Als 17-Jähriger trat er in dem Hagener Betrieb seine Lehre zum Buchdrucker an. Drei Jahre später schloss er seine Ausbildung in der Firma ab. Nach Wehrdienst und Fachabitur kehrte er zurück, bekam eine feste Anstellung. „Damals noch per Handschlag, das war so üblich“, erinnert sich Ingo Nünnerich.

Die Bütte in der Papiermühle im Freilichtmuseum Hagen. In diese Holzwanne, gefüllt mit Bachwasser, wurde Ingo Nünnerich beim Gautschfest 1983 getaucht.
Die Bütte in der Papiermühle im Freilichtmuseum Hagen. In diese Holzwanne, gefüllt mit Bachwasser, wurde Ingo Nünnerich beim Gautschfest 1983 getaucht. © WP Hagen | Marcel Krombusch

Neuer Job

Er steht in der Druckerei im Freilichtmuseum, sein neuer Arbeitsplatz zwischen Infotafeln und Druckmaschinen. Zwei Kronleuchter an der Decke tauchen den kleinen Raum in pfirsichfarbenes Licht. Ein paar Jugendliche kommen durch die Tür, gehen neugierig auf eine Druckmaschine zu, strecken die Hände aus. „Bitte nicht anfassen“, zitiert Ingo Nünnerich das Schild an der Maschine. Der gelernte Buchdrucker achtet auf die Exponate um ihn herum, die so viel von seiner Zunft erzählen.

Prägende Jahre

Zig Druckseiten gingen über die Jahrzehnte durch seine Finger. Kalender, Prospekte, auch Sonderdrucke für Hagener Künstler wie Erwin Hegemann und Uwe Nickel. Besonders die Arbeit mit gedruckten Texten prägt seinen Blick bis heute. „Eine Speisekarte im Restaurant lese ich immer zweimal“, sagt Nünnerich. „Einmal, um das Essen auszuwählen, und ein zweites Mal, um Korrektur zu lesen.“

Eine Speisekarte im Restaurant lese ich immer zweimal. Einmal, um das Essen auszuwählen, und ein zweites Mal, um Korrektur zu lesen.
Ingo Nünnerich, gelernter Buchdrucker aus Hagen

Arbeit verloren

Kurz vor der Pandemie stellte die Firma Passmann in Hagen aus internen Gründen den Betrieb ein. Ingo Nünnerich verlor nach fast 40 Jahren seine Arbeitsstelle. Keine schöne Zeit für den gelernten Buchdrucker, selbst wenn er einige Stellenangebote aus der weiteren Region fand. „Aber drei Stunden Arbeitsweg hin und zurück jeden Tag, das wollte ich nicht“, sagt der Familienvater aus Hagen.

Eine seiner Töchter entdeckte eine Stellenanzeige des Freilichtmuseums, wo eine Stelle in der Druckerei frei war. „Sie half mir bei der Bewerbung und es hat geklappt.“ Noch am Tag des Bewerbungsgesprächs kam später der Anruf: „Sie sagten, ich habe die Stelle.“

Der gelernte Buchdrucker Ingo Nünnerich wurde mit 58 Jahren gekündigt und trat eine neue Stelle als Kulturvermittler in der Druckerei im Freilichtmuseum Hagen an. Diese Druckmaschine im Museum - Modell Original Heidelberger Tiegel - kennt der 62-Jährige seit seiner Lehre.
Der gelernte Buchdrucker Ingo Nünnerich wurde mit 58 Jahren gekündigt und trat eine neue Stelle als Kulturvermittler in der Druckerei im Freilichtmuseum Hagen an. Diese Druckmaschine im Museum - Modell Original Heidelberger Tiegel - kennt der 62-Jährige seit seiner Lehre. © WP Hagen | Marcel Krombusch

Handwerk mit Tradition

Er führt vor einen kleinen Glaskasten. Darunter liegt die Nachbildung einer Gutenberg-Bibel. „1280 Seiten umfasst die Bibel“, weiß Nünnerich. „Sie ist für mich ein Hilfsmittel, um jungen Generationen den Buchdruck näher zu bringen.“

Schließlich erinnert sie an Johannes Gutenberg, den Erfinder des Buchdrucks. Im Mittelalter zerlegte er Texte in Buchstaben und Satzzeichen, goss diese einzelnen „Lettern“ in Metall und konnte so mit ihnen Texte immer wieder neu zusammensetzen. Gutenberg entwickelte auch Druckerschwärze und eine Druckerpresse, um die Lettern fest auf Papier zu pressen. Dadurch konnten Schriften auf Papier so schnell vervielfältigt und verbreitet werden wie nie zuvor. Mehr als 500 Jahre lang wurde nach dem Gutenberg-Prinzip gedruckt, moderne Techniken lösten das Prinzip erst in den 1970ern ab.

Die Nachbildung einer Gutenberg-Bibel wird in der Druckerei im Freilichtmuseum Hagen ausgestellt.
Die Nachbildung einer Gutenberg-Bibel wird in der Druckerei im Freilichtmuseum Hagen ausgestellt. © WP Hagen | Marcel Krombusch

Bildschirm statt Papier

Dass die Menschen heute immer weniger auf Papier und immer mehr über Smartphones, Tablets und E-Book-Reader lesen, das nimmt Ingo Nünnerich gelassen zur Kenntnis. „Das ist der Lauf der Zeit“, sagt er. Die Welt dreht sich eben weiter. Er ärgere sich allerdings über Online-Texte im Internet. „Diese Texte sind mir oft zu fehlerhaft, das stört mich sehr.“

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Berufung gefunden

Umso wichtiger für ihn, bei seinen Gesprächen mit den Besuchern des Museums auf den Wert der Sprache hinzuweisen. „Die deutsche Sprache ist die schönste Sprache, die ich kenne.“ Daneben übt er in der Druckerei sein Handwerk bis heute aus. An den Druckmaschinen nutzt er seine Fähigkeiten, um Flyer für das Freilichtmuseum zu drucken. „Dabei unterstützt mich eine Kollegin, die das Setzen von Lettern gelernt hat.“

Der gelernte Buchdrucker Ingo Nünnerich arbeitet seit Corona als Kulturvermittler im Freilichtmuseum Hagen. Sein Handwerk übt er bis heute aus - und druckt Flyer für das Museum.
Der gelernte Buchdrucker Ingo Nünnerich arbeitet seit Corona als Kulturvermittler im Freilichtmuseum Hagen. Sein Handwerk übt er bis heute aus - und druckt Flyer für das Museum. © WP Hagen | Marcel Krombusch

Seit vier Jahren arbeitet er mittlerweile n der Druckerei des Museums. Er fühle sich wohl, sagt der 62-Jährige, und kann sich vorstellen, auch über den Ruhestand hinaus zu bleiben. „Dann aber mit weniger Stunden in der Woche.“