Winterberg/Arnsberg. Der Prozess dürfte für Aufsehen sorgen. Ein Kleinkind starb, eines wäre fast verhungert. Trifft eine Jugendamtsmitarbeiterin eine Mitschuld?
Was muss eine Jugendamtsmitarbeiterin unternehmen, wenn sie in eine Familie mit einer Alleinerziehenden und neun Kindern kommt? Wann darf sie unterstützen und begleiten, wann muss sie wie durchgreifen? Wie ist das Verständnis von Jugendarbeit? Und sind allgemeine Erwartungen an eine Behörde mit Rechtsgrundsätzen gleichzusetzen? Vor der 3. Strafkammer als Berufungskammer wird nächsten Dienstag am Landgericht Arnsberg ein Verfahren eröffnet, das viele Jugendämter in ganz Deutschland mit großer Spannung verfolgen werden. Angeklagt ist eine Mitarbeiterin des HSK-Jugendamtes. Im Raum steht die Frage: Trägt sie eine Mitschuld am Tod eines zweijährigen Jungen bzw. am Leid seiner jüngeren Schwester?
Wechselseitiges Berufungsverfahren
Die heute 31-Jährige war im Mai 2017 nach vier Verhandlungstagen am Amtsgericht Medebach wegen fahrlässiger Tötung in Tateinheit mit fahrlässiger Körperverletzung zu einer Freiheitsstrafe von sechs Monaten auf Bewährung verurteilt worden. Außerdem sollte sie 4200 Euro an das westfälische Kinderdorf zahlen. Die junge Frau, die zwischenzeitlich in anderer Funktion beim Kreis arbeitet, hatte gegen das Urteil Berufung eingelegt.
Mit einem Kopfschütteln hatte ihr Verteidiger Thomas Mörsberger aus Lüneburg, der die Frau auch jetzt wieder vertreten wird, damals auf das Medebacher Urteil reagiert. Ihm und seiner Mandantin war das Urteil völlig unangemessen. „Das größte Ziel dieses Verfahrens wird es sein es, meine Mandantin wieder voll zu rehabilitieren“, sagte der Verteidiger auf Anfrage unserer Zeitung. Er wehre sich gegen die „platte und inakzeptable“ Formulierung „sie hätte genauer hinschauen müssen“. Er erwarte in diesem Verfahren die „nötige Gründlichkeit in Sach- und Rechtsfragen“. Alles Weitere möge aber im Gerichtssaal und nicht im Vorfeld der Verhandlung geklärt werden.
Weitere Berichte rund um den Prozess
Staatsanwalt Klaus Neulken hingegen war der Richterspruch aus Medebach zu milde. Er hatte eine Freiheitsstrafe von neun Monaten auf Bewährung gefordert. Die Frau war verurteilt worden, weil sie nach Ansicht des Gerichtes ihren Kontrollpflichten nicht hinreichend nachgekommen sein soll. „Sie hätte ohne Weiteres bei sorgfältiger Wahrnehmung ihrer Aufgaben den Tod und das Leiden“ zweier Kinder verhindern können, heißt es in der schriftlichen Urteilsbegründung.
Zehnfache Mutter kommt als Zeugin in Betracht
Das Verfahren gegen die Jugendamtsmitarbeiterin war in einem anderen Prozess ins Rollen gekommen, und zwar in der Verhandlung gegen eine damals neunfache Mutter aus dem Raum Winterberg. Mit dieser Familie hatte die Sozialarbeiterin 2013/2014 zu tun. Ein zweijähriger Junge starb an Unterversorgung, seine jüngere Schwester konnte noch gerettet werden. Beide Kinder waren nachweislich unterversorgt. Der schlechte Zustand der Kinder war ihr aber nicht aufgefallen.
Das Mammut-Verfahren mit 22 Prozesstagen gegen die inzwischen zehnfache Mutter ist mittlerweile rechtskräftig abgeschlossen. Sie wurde wegen Körperverletzung mit Todesfolge in einem minderschweren Fall und Körperverletzung durch Unterlassen rechtskräftig zu dreieinhalb Jahren Freiheitsstrafe verurteilt und sitzt seit diesem Sommer in Haft. Sie wird aber vermutlich in diesem Prozess als Zeugin auftreten. In dem ersten Verfahren gegen die Sozialarbeiterin in Medebach hatte sie von ihrem Aussageverweigerungsrecht Gebrauch gemacht. Dies dürfte nun nach dem rechtskräftigen Urteil nicht mehr möglich sein.
Verfahren wird komplett neu aufgerollt
Das ganze Geschehen wird in dem Berufungsverfahren komplett neu aufgerollt. Trotzdem führt mit Dorina Henkel eine Richterin den Vorsitz der Berufungskammer, die den Sachverhalt und viele Details aus einem anderen Prozess kennt. Sie hatte auch den Vorsitz im Schwurgerichts-Verfahren gegen die zehnfache Mutter. Für das Berufungsverfahren sind zunächst sechs Verhandlungstage angesetzt.