Medebach/Winterberg. Prozessauftakt gegen Mutter aus dem Sauerland: Sie soll zwei ihrer Kinder so vernachlässigt haben, dass ein Junge stirbt . Richter erhebt Vorwürfe gegen das Jugendamt.

Warum hat niemand bemerkt, dass zwei Kinder bis auf die Knochen abgemagert sind? Warum hat sich das Jugendamt nicht intensiver gekümmert? Um eine alleinerziehende Mutter, die von Sozialhilfe lebt und ohne Mann mit ihren neun Kindern ins Sauerland zieht? Um eine Familie, von der aktenkundig war, dass nicht immer alles rund lief. Vor dem Medebacher Amtsgericht muss sich seit gestern eine 38-jährige Frau aus dem Großraum Winterberg wegen des Vorwurfs der fahrlässigen Tötung und der fahrlässigen Körperverletzung verantworten.

Anakin wiegt nur 5,6 Kilo

Ein gesundes Kind im Alter von zwei Jahren wiegt normalerweise 15 bis 18 Kilo. Der kleine Anakin bringt noch 5,6 Kilo auf die Waage, als am 24. Februar 2014 die Ärzte im Hüstener Karolinenhospital um sein Leben kämpfen. Nur einen Tag später stirbt er. „Weil er extrem ausgetrocknet und ausgehungert war“, sagt Dr. Martin Rey, früherer Chefarzt der dortigen Kinderabteilung. Und er fügt hinzu: „In dem Ausmaß habe ich so etwas noch nicht gesehen.“ Nur einen Tag zuvor ist die erst neun Monate alte Schwester des Jungen, Serenity, mit ähnlichen Symptomen nach Arnsberg-Hüsten gekommen. Sie konnten die Ärzte retten.

„Ich habe sie doch nicht verhungern lassen“, beteuert die Frau immer wieder. Es sei normal gewesen, dass im Winter der Magen- und Darmvirus reihum gegangen sei. Und die beiden Jüngsten seien schließlich immer schon sehr zierlich gewesen. „Dass es so massiv war, habe ich nicht gesehen.“ Permanent hält sich die Frau die rechte Hand vors Gesicht, um nicht erkannt zu werden. Immer wieder stockt ihre Stimme, als sie dem Gericht einen ganzen Stapel Fotos von glücklichen Kindern zeigt. Aber es gibt auch andere Bilder. Bilder von Anakin und Serenity, die nur noch aus Haut und Knochen bestehen. Deren Ärmchen so dünn sind wie ein Männerdaumen.

Schwere Vorwürfe erhebt Richter Ralf Fischer gegen das Jugendamt des Hochsauerlandkreises: „Ob hier eine strafrechtliche Verantwortlichkeit besteht, weiß ich zurzeit noch nicht. Aber eine moralische gibt es auf jeden Fall. Wenn wir hier so arbeiten würden, könnten wir einpacken.“ Schon der Landkreis, in dem die Familie vorher wohnte, hatte der zuständigen Abteilung beim Hochsauerlandkreis mitgeteilt, dass eines der Kinder untergewichtig sei. Das Jugendamt sorgte zwar für diverse Hilfsangebote, habe aber, so der Richter, offenbar keinen Anlass gesehen, alle Kinder in Augenschein zu nehmen. Vier Wochen vor dem Tod des kleinen Jungen hatte die zuständige Mitarbeiterin die Familie noch besucht. Dabei sei ihr nicht aufgefallen, dass zwei Kinder untergewichtig waren.

Auf mehrfache Nachfrage von Staatsanwalt Klaus Neulken und Richter Ralf Fischer macht der frühere Chefarzt der Hüstener Kinderklinik am Ende des ersten Prozesstages eine Aussage, die die Mutter schwer belastet: „Wenn sich die Schwester des verstorbenen Kindes inzwischen ganz normal weiter entwickelt hat, dann stehe ich dazu, dass dem Jungen zu wenig Nahrung angeboten wurde.“

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