Stuttgart. Die DFB-Auswahl bleibt erstmals seit der EM 2016 in einem Turnierspiel ohne Gegentor. Nagelsmann entdeckt seine Verteidigungsmonster.
Am Tag nach dem Achtelfinal-Einzug der deutschen Nationalmannschaft bei der Heim-EM gab es für die Fußballfans in Büros, Cafés oder zu Hause an den Frühstückstischen viele Szenen zu diskutieren. Szenen des 2:0 (1:0)-Sieges gegen Ungarn, durch den sich die DFB-Auswahl am Mittwochabend in Stuttgart vorzeitig für die K.o.-Runde qualifiziert hat. Allen voran die Paraden von Manuel Neuer nach 15 Sekunden gegen Roland Sallai oder später gegen Dominik Szoboszlai. Oder die Szene vor dem 1:0, als sich der kleine Ilkay Gündogan gegen den bulligen Willi Orban durchsetzte und das Tor durch Jamal Musiala vorbereitete (22.). Und natürlich das schön herausgespielte 2:0 über sechs Stationen durch Gündogan (67.).
Jonathan Tah als Beispiel für die Willensleistung
Die wenigsten der 23,89 Millionen TV-Zuschauer in der ARD dürften aber über eine Schlüsselszene gesprochen haben, die stellvertretend stand für die Leistung der Nationalmannschaft gegen Ungarn und zuvor auch gegen Schottland: Das lange Bein von Innenverteidiger Jonathan Tah in der Entstehung vor dem 1:0 gegen den Ungarn Barnabás Varga (22.). Mit seinem akrobatischen Einsatz auf Hüfthöhe verhinderte der Leverkusener nicht nur einen möglichen Konter, sondern leitete damit den eigenen Angriff über Florian Wirtz und Musiala ein. In einem Moment, in dem die ungarische Defensive kurzzeitig ungeordnet war. Man könnte auch über Tahs Block gegen Szoboszlai sprechen, mit dem er das 1:1 verhinderte (29.). Oder auch über Tahs Grätsche an der Außenlinie nach einem 50-Meter-Sprint, wieder gegen Szoboszlai (57.).
Viele Füße von Tah, zwei Fußabwehraktionen von Neuer, aber nicht weniger als 22 deutsche Füße waren es, die sich gemeinschaftlich gegen die Ungarn stemmten. Anders als im Auftaktspiel gegen Schottland wurde die deutsche Defensive deutlich stärker gefordert. „Das Spiel war ein guter Reifeprozess. Im November hätten wir das Spiel nicht gewonnen“, sagte Bundestrainer Julian Nagelsmann, der sich nach den Niederlagen gegen die Türkei (2:3) und Österreich (0:2) im Spätherbst vergangenen Jahres darüber beklagt hatte, dass die deutsche Mannschaft nun mal kein Verteidigungsmonster sei. Das Land der Schwarzenbecks und Briegels, Kohlers und Buchwalds, Ramelows und Nowotnys, hatte plötzlich keine Spieler mehr, die zuallererst defensiv dachten.
Julian Nagelsmann und das große Umdenken vor der EM
Es war der Moment des großen Umdenkens bei Nagelsmann. Mit dem Ergebnis, dass die deutsche Nationalmannschaft in diesem Jahr mit all ihren Technikern wie Kroos und Gündogan, Musiala und Wirtz oder auch Havertz noch immer richtig schön kombinieren kann. Dass all jene, begleitet von Aufpasser Robert Andrich, aber auch bereit sind, mit nach hinten zu arbeiten. „Alle wollen zu Null spielen, das ist ein sehr gutes Zeichen“, sagte Nagelsmann.
Nachdem sich die Mannschaft schon über das späte Eigentor gegen Schottland maßlos geärgert hatte, blieb sie gegen Ungarn zum dritten Mal in diesem Jahr ohne Gegentor. Zum Vergleich: In elf Länderspielen 2023 gelang das nur ein Mal. Ohnehin hat die deutsche Mannschaft in ihren sechs Länderspielen im Jahr 2024 erst drei Gegentore kassiert.
Antonio Rüdiger kann die DFB-Statistik kaum glauben
Eine weitere Statistik, die das deutsche Problem der vergangenen Jahre untermauert: Gegen Ungarn blieb die DFB-Auswahl das erste Mal seit der EM 2016 – damals war es ein 3:0 im Achtelfinale gegen die Slowakei – bei einem großen Turnier wieder ohne Gegentor. Acht Jahre ist das schon her. Selbst Antonio Rüdiger konnte die Statistik kaum glauben. „Uff, so lange schon?“, sagte der zweite Innenverteidiger, der mit Tah an seiner Seite immer besser harmoniert. „Das Zusammenspiel mit Jonathan passt, aber das Lob geht auch an die Vorderleute. Wir arbeiten alle zusammen, das ist der Schlüssel“, sagte Rüdiger.
Trotz aller Loblieder für das leidenschaftliche Verteidigen aller Mannschaftsteile waren es gegen die Ungarn am Ende ein paar Großchancen zu viele, die Neuer entschärfen musste. „Wir hatten zu viele Situationen, in denen wir nach hinten verteidigen mussten“, sagte Nagelsmann, der mit seiner Mannschaft so gerne nach vorne verteidigt. Das bedeutet: hohes Verteidigen, schnelle Balleroberungen nach Ballverlusten. Die Ungarn schafften es aber immer wieder, das deutsche Pressing mit langen Bällen und Verlagerungen zu überspielen.
Auf Manuel Neuer ist im DFB-Team wieder Verlass
Die gute Nachricht: Auf Neuer ist wieder Verlass. Die deutsche Nummer eins ist durch die Paraden gegen Ungarn im Turnier angekommen und wieder der Rückhalt, den Deutschland braucht, um Europameister zu werden. Wer Joshua Kimmich und Tah nach der Doppelparade gegen Szoboszlai gesehen hat, wie sie Neuer feierten, konnte sich davon überzeugen, dass das Gemeinschaftsgefühl in der Mannschaft nicht nur eine Worthülse ist.
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Die einzige dezente Gefahr, die der deutschen Mannschaft im abschließenden Gruppenspiel gegen die Schweiz am Sonntag (21 Uhr/ARD und Magenta) und im Achtelfinale in einer Woche droht, trägt die Farbe Gelb. Mit Tah, Rüdiger, Andrich und Maximilian Mittelstädt haben bereits vier deutsche Defensivspieler eine Gelbe Karte gesehen. Nach einer weiteren Verwarnung wären sie für ein Spiel gesperrt. Erst nach dem Viertelfinale werden die Gelben Karten gestrichen, damit kein Spieler in einem möglichen Finale gesperrt wäre. So wie es Michael Ballack bei der Weltmeisterschaft 2002 passierte.
Nagelsmann aber will auch gegen die Schweiz mit seiner EM-Elf antreten. Im besten Fall, so der Plan, bleibt die deutsche Mannschaft dann auch ohne Gelbe Karte ohne Gegentor. Und spielt als Gruppensieger am Samstag in einer Woche in Dortmund.