Kierspe. Weil in Lüdenscheid nach der Sperrung der A45 ein Lkw-Fahrverbot erlassen wurde, verlagert sich der Verkehr auf andere Routen. Besuch vor Ort.
Nein, die Dame scherzt nicht. Dafür ist der Satz auch zu eindringlich. „Teilweise muss man hier Angst um sein Leben haben“, sagt Melanie Sinn und zieht an ihrer Zigarette. Sie denkt vor allem an den Bereich rund um den Kirchturm, wo das sauerländische Kierspe ein kleines idyllisches Örtchen sein könnte.
Waghalsige Manöver in einer s-förmigen, engen Kurve
Die Realität: riesige Lkw schieben sich dort durch die Gassen von Kierspe-Dorf. Begegnen sich die Transporter im Bereich einer s-förmigen Kurve, weichen sie manchmal über den Gehweg aus. Ein Schutzzaun aus Metall ragt schief aus dem Gehweg in die Luft, die Bordsteine sind in Mitleidenschaft gezogen. Das Vordach einer tiermedizinischen Praxis ist seit einigen Wochen ramponiert. „In der Ecke, in der das Dach ist, war ich gerade mitten in einer Behandlung, als es fürchterlich knallte“, erinnert sich Inhaberin Lea Volkmann: „Ein Lkw war gegen das Dach gefahren. Das ist schon beängstigend.“
Bislang ist nichts Schlimmeres passiert. Aber wie lange noch?
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Melanie Sinn sitzt mit ihrem Mann Achim im Schatten nahe der Straße, sie trinken Wasser, unterhalten sich soweit möglich bei dem Lärm. Lkw dröhnen vorbei, manche hupen scheinbar grundlos. Lkw aus Rumänien, Polen, Bulgarien, aus Wetzlar in Hessen, aus Altenkirchen in Rheinland-Pfalz, aus Heidenheim in Baden-Württemberg, aus Würzburg in Bayern, aus Paderborn, Dortmund, Oberhausen, Gelsenkirchen, dem Kreis Olpe und dem Hochsauerlandkreis. Eine unvollständige Liste. „Wir verlieren hier bald die Nerven“, sagt Achim Sinn: „Wir fühlen uns im Stich gelassen.“
Lkw-Fahrverbot in Lüdenscheid verlagert den Verkehr
In Kierspe ist zu beobachten, dass das, was in Lüdenscheid passiert, ein wahres Infrastrukturdesaster mit weit reichenden Folgen ist. Im Dezember 2021 musste die Talbrücke Rahmede entlang der Autobahn 45 wegen akuter Einsturzgefahr gesperrt werden. Die Lkw donnerten dann durch Lüdenscheid. Dort gibt es seit Juni auf bestimmten Strecken ein Lkw-Fahrverbot – mit der Folge, dass sich der Schwerverkehr nun noch mehr auf andere Routen verlagert.
Parallel zur A45 führt die L528 übers Land: über Meinerzhagen, Kierspe, Halver, Breckerfeld nach Hagen – und umgekehrt. Besonderheiten in Kierspe: Auch der Verkehr aus dem Rheinland fällt über Wipperfürth in die Stadt ein. Und eine bereits kaputtgefahrene Brücke über die Volme bringt den Verkehr zusätzlich zum Erlahmen. Es rumort im 17.000-Einwohner-Ort.
Demonstranten ziehen durch Kierspe - und fordewrn Fahrverbote
„Der Verkehr hat seit dem Lkw-Fahrverbot meiner Meinung nach zugenommen. Die Lage ist weiterhin angespannt“, sagt Bürgermeister Olaf Stelse (SPD). Die neusten Zahlen zu Verkehrsmessungen liegen ihm noch nicht vor, sagt er. Am Ärger der Menschen würde das vermutlich auch nichts ändern. Am Montagabend zogen rund 150 Menschen bei einer Demonstration durch die Stadt. Sie trugen Plakate mit der Aufschrift: „Durchfahrtverbot jetzt“ oder „Gebt uns die Strassen wieder“.
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Bürgermeister Olaf Stelse lässt erkennen, dass er gern eine Lösung für das Problem hätte. Aber er weiß noch nicht, wie die aussehen kann. Um Maßnahmen anzustoßen, bräuchte es Lärmbelastung oberhalb der Richtwerte. Oder einen Unfallschwerpunkt. Nur der Kreis ist berechtigt, verkehrsrechtliche Maßnahmen anzuordnen, Kierspe als kleine Gemeinde nicht. Auf Teilen der Strecke – zum Beispiel entlang der Schule – ist bereits Tempo 30 eingeführt worden. Doch der Lärm und die Belastungen bleiben.
63 Jahre lang Anwohnerin in Kierspe: „So schlimm wie jetzt war es noch nie“
„Draußen sitzen geht nicht mehr, Fenster putzen spare ich mir“, sagt Petra Güntner. Sie wohnt direkt dort, wo sich die Lkw in Kierspe-Dorf begegnen, wo sie ausweichen. Neulich sei sie aus dem Haus gegangen, die Treppe zur Straße hinauf – da sei ihr ein Lkw auf dem Gehweg entgegengekommen. 63 Jahre alt ist sie, ihr ganzes Leben wohnt sie in Kierspe. „So schlimm wie jetzt war es noch nie. Es ist unerträglich.“
Kierspe wartet - wie auch Breckerfeld - gerade auf die Ergebnisse einer weiteren Messung. „Nach Abschluss der Messungen wird das gesamte Datenmaterial gesichtet, ausgewertet und auf Plausibilität überprüft. Dieser Weg ist mit der Stadt Kierspe vereinbart“, heißt es auf Nachfrage vom Märkischen Kreis. „Ob und inwieweit sich ein Handlungsbedarf ergibt, ist nicht allein eine Frage der zahlenmäßigen Veränderungen und auch keine politische Entscheidung.“
Ziel: Schwerlastverkehr aus der gesamten Region raushalten
Der Handlungsrahmen werde durch die gesetzlichen Regelungen bestimmt. Es müsse eine besondere Gefahrenlage vorliegen. „Ob, und wenn ja, an welcher Stelle im Streckennetz sich eine solche Gefahrenlage möglicherweise herleiten lässt, ist momentan noch offen“, teilt der Kreis mit. Die Stadt Kierspe hat ein eigenes Lärmgutachten angefordert. Ausgang: offen.
Kierspe scheint derzeit am härtesten getroffen. Bürgermeister Stelse ist sich trotzdem klar, dass es die Solo-Lösung nicht geben wird. „Durchfahrtverbote müssten ja schon drei Städte vorher gelten, sonst macht es alles keinen Sinn“, sagt er. Der Kreis argumentiert ähnlich. „Es ist wichtig, den überregionalen Schwerlastverkehr aus der gesamten Region fernzuhalten, um mögliche Verlagerungs- und Verdrängungseffekte zu verhindern“, heißt es dort: Es brauche die „große Lösung einer weiträumigen Umleitung für den überregionalen Durchgangsverkehr über die Autobahn. Hier ist der Bund gefordert, das rechtlich möglich zu machen.“ Ob und wann der reagiert - bleibt offen.