Hagen. Holger Brandenburg (54) bietet mit dem Verein „Unsichtbar“ Obdachlosen nachts akute Hilfe an. Ein bewegendes Erlebnis war der Auslöser.
Werner, Anfang 70, sitzt gegen 22.30 Uhr drinnen im Bahnhof, sein Körper zittert, weil die eisige Kälte an ihm hochklettert. Seit drei Wochen lebe er auf der Straße, sagt Werner. Angefangen habe das Unheil, als er Rentner wurde. Dann sei er krank geworden, dann habe er bei einem Freund gewohnt, bis das nicht mehr ging. „Ich habe eine Eigentumswohnung in Palma“, sagt er.
Hat er? Oder wärmt ihn nur der Gedanke, damit er nicht das Letzte, was ihm geblieben ist, auch noch verliert in dieser Nacht: sein Leben? Eine der Fragen, die an diesem Abend übrig bleiben werden.
Es ist der Abend, an dem Holger Brandenburg (54) mal wieder rausfährt zu den Menschen, die nichts haben, um ihnen zu geben, was ihnen in diesem Augenblick am dringendsten fehlt: ein Getränk, eine heiße Fertignudelterrine, einen Schlafsack, eine Thermomatte. Brandenburg - ein Bär von einem Mann, weißer, widerspenstiger Bart, Mütze auf dem Kopf - hat vor acht Jahren in Ennepetal „Unsichtbar“ gegründet, einen Verein, der vor allem Obdachlosen hilft. Gerade im Winter fahren er und seine Mitstreiter abends los und bleiben bis in die Nacht auf den Straßen Hagens, Wuppertals, des Ennepe-Ruhr-Kreises. Der Märkische Kreis soll bald auch dazukommen.
Minus fünf Grad zeigt die Anzeige im Auto. Die Windschutzscheibe hat außen einen Rahmen aus festgefrorenem Schnee. Brandenburg sitzt am Steuer. Neben ihm: Rüdiger Wackwitz (54), neu im Team. Die Schicht von 20 bis 24 Uhr fahren sie gemeinsam - alles, was danach noch kommt, macht Brandenburg allein.
„Du weißt nie, was passiert“, sagt er auf dem Weg nach Hagen. Im Lager in Ennepetal haben sie vorher die Regale im Kofferraum des Wagens vollgemacht: Fuß- und Handwärmer, Kekse, Socken, Mützen. „Wir sind die Streckenposten der Nacht“, sagt Brandenburg.
Sie fahren die Spots an, die als Schlafstätten bekannt sind: einen Parkplatz in Hagen-Wehringhausen, dunkle Orte der Innenstadt, ein Schotterbett unter einer Brücke, eine Industriebrache, den Güterbahnhof. Wackwitz leuchtet mit einer Taschenlampe ins Dunkle, das aber doch die Oberhand behält. „Nimm die Erna“, rät Brandenburg. Die Erna ist ein Nachtsichtgerät, das sie extra angeschafft haben, um jene zu finden, die von der Nacht verschluckt werden.
Schlafsäcke für den Winter für bis zu minus 23 Grad
Das Lager in Ennepetal ist gut gefüllt: ungetragene günstige Schuhe in fast allen Größen, Thermounterwäsche, Taschentücher, Aufgussmahlzeiten, Schlafsäcke für Frühjahr und Herbst bis minus acht Grad, Schlafsäcke für den Winter für bis zu minus 23 Grad. Die müssen es schon sein jetzt. Seit Tagen herrscht Frost, bisweilen sogar strenger Frost. Der Verein, sagt Brandenburg, trage sich ausschließlich durch Spenden.
Ein Mann hastet in Hagen über den Gehweg, als hätte er einen wichtigen beruflichen Termin, eine Tüte am langen Arm wie eine Aktentasche. „Braucht der was?“, fragt Wackwitz ins spärlich beleuchtete Auto. „Klar braucht der was!“, sagt Brandenburg. Sie wenden. „Ey, Chef. Brauchst du was?“, ruft Brandenburg aus dem geöffneten Fenster. Er braucht was.
Joachim, vielleicht vierzig Jahre alt, starrer Blick, auf dem Kopf sieht er aus wie ein schlecht geschorenes Schaf. In der Discounter-Tüte hat er bei sich, was ihm wichtig ist. Seit zwei Jahren lebe er auf der Straße, „als Folge der Flut“, sagt er im Hinblick auf das Hochwasser 2021. Wackwitz bietet Schlafsack und Thermomatte an. „Ich will nicht gierig sein“, antwortet der Mann. „Gebt das lieber Leuten, die das nötiger brauchen.“ Einmal Kartoffelpüree nimmt er dann doch. Die Nacht wird er in einem Parkhaus in der Innenstadt verbringen. „Aber im Frühjahr suche ich mir eine Wohnung. Frag nicht, warum dann!“ Wird er? Noch so eine Frage, die übrig bleiben wird.
„Es tut niemandem weh, erst einmal jede Geschichte zu glauben. Schadet ja keinem“, sagt Wackwitz. Jeder hat seine eigene Geschichte. Aber die Fragen, die sie aufwerfen, sind nicht immer leicht abzustreifen.
Vor wenigen Wochen erst, sagt Brandenburg, habe er mit vier Polizisten vor dem Krankenhaus gestanden, aus dem sich eine junge Frau selbst entlassen hatte. Sie habe kein Geld gehabt, hatte sich prostituiert, war an jemanden geraten, der sie fesselte und eingesperrt hielt. Ihr sei die Flucht gelungen, ehe sie von der Polizei aufgelesen und ins Krankenhaus gebracht worden war. Da habe sie nun gestanden: 18 Jahre alt, Hemdchen, Jogginghose, Pantoffeln, kein Zuhause. „Das beamt dich weg“, sagt Brandenburg, „auch nach acht Jahren noch“. Hinter der Frage, was aus ihr wurde, findet sich keine Antwort. „Da stehst du da und rätselst, wie so etwas passieren kann in Deutschland.“
In Wuppertal, sagt Brandenburg, sei vor einigen Tagen ein Obdachloser an Unterkühlung gestorben. Warum waren sie nicht vor Ort? Auch so eine Frage, die Brandenburg sich dann stellt. Er gibt die Antwort, obwohl sie schmerzt: „Wir können nicht überall sein. Darüber muss man sich im Klaren sein.“
Polizei und Feuerwehr rufen Verein zur Hilfe
Brandenburg arbeitet mit der Wohnungsnotstelle der Stadt Hagen zusammen, mit der Diakonie, mit Feuerwehr und Polizei. Die Beamten rufen ihn oft an, zweimal allein in dieser Nacht. Akuthilfe gibt‘s von ihm und den Kollegen. Warum eigentlich?
„Unsichtbar“ bei der Arbeit: So hilft der Verein Obdachlosen
„Bei mir ist es ein Versprechen“, sagt er. Seine Oma habe ihn sehr gläubig erzogen, habe ihn vieles gelehrt, unter anderem den Leitsatz: Helfe anderen, bevor du dir hilfst. Er hat ein bewegtes Leben hinter sich. Eine Bar habe er geleitet, später im Vertrieb gearbeitet, er sei Bus gefahren und habe es in der Versicherungsbranche versucht. „Ich habe gutes Geld verdient, aber auch viel Mist erlebt“, sagt er. Auf eine langwierige Krankheit folgten Depressionen. Frührentner sei er jetzt.
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Er kam an einem kalten Novemberabend mit seinem Hund von einem Spaziergang zurück in die warme Wohnung, als er dachte, dass es draußen viel zu kalt sei, dass man helfen müsse. Mit einer Thermoskanne Kaffee fuhr er zum Essener Hauptbahnhof und schenkte einem Mann ein. „Dieser Moment ist wie ein Tattoo unter der Haut. Die Dankbarkeit in diesem Blick werde ich nie vergessen. Dieser Verein und die Arbeit sind Medizin für mich. Ich brauche das, um leben zu können.“
Mitstreiter Wackwitz ist Sozialarbeiter, macht Supervisionen und Mediationen. Er muss um 6 Uhr wieder raus morgen früh. „Ich habe das Phänomen der Obdachlosigkeit in der eigenen Familie erlebt. Wie die Menschen übergangen werden, wie sie herablassend und geringschätzig behandelt werden“, sagt er. „Das Bedürfnis Menschen zu helfen, ist tief in mir verwurzelt.“
Unsichtbar e.V.
Den Unsichtbar e.V. gibt es seit mittlerweile acht Jahren. Für die Touren in den Abend- und Nachtstunden stehen insgesamt 15 Freiwillige zur Verfügung. Immer fahren sie zu zweit. Holger Brandenburg sagt, dass er noch keine schlechten Erfahrungen gemacht habe, aber sicher sei sicher. Zu den Grundsätzen des Vereins zählt, dass sie keine Anträge mit den Obdachlosen ausfüllen oder ihnen frische Lebensmittel bringen.
Mit 24 Jahren lebt Marvin auf der Straße
Letzter Halt der Frühschicht: Hagen-Hauptbahnhof. Reger Betrieb am Kofferraum. Das heiße Wasser, mit dem Kaffee und Suppen aufgegossen werden, dampft in der Kälte. Ein Bärtiger verschwindet mit zwei Bechern Spaghetti Bolognese, Marvin begnügt sich mit einem Kaffee. 24 Jahre alt, seit fünf Monaten auf der Straße.
Er habe mit seiner Mutter zusammengewohnt, die aber gestorben sei. Das habe alles geändert. Der Vater melde sich nicht. „Ich komme nicht klar“, sagt er. Allein sei er. Die Ausbildung zum Automechatroniker habe er abgebrochen, die Freundin sei weg. „Ich schäme mich, dass ich so abgestürzt bin.“ Er trinke nicht, nehme auch sonst keine Drogen. Er wird sich für die Nacht einen Keller oder Hausflur suchen, sagt er. „Ich versuche, mein Leben wieder in den Griff zu kriegen.“
Drinnen im Bahnhof, unterhalb der Anzeige mit den Zügen, die ankommen und abfahren wie Chancen im Leben, sitzt Werner, der Mann, der sagt, dass er eine Eigentumswohnung in Palma habe. Ob noch ein Zug ankommt, mit dem er irgendwann fahren kann? Noch so eine Frage. Mit vor Kälte zitternder Hand löffelt er sein Essen und streicht sich durch den Bart. „Die Nacht“, sagt er, „die Nacht wird lang.“