Ennepetal/Wuppertal. Ein Ennepetaler Verein hilft Obdachlosen in der Region. Wie hart das Leben auf der Straße ist, hat unsere Redaktion hautnah miterlebt.
Der Mann erzählt, dass er nach seiner Klempner-Ausbildung zwölf Jahre Scharfschütze bei der Bundeswehr war. Ob Afghanistan oder Zentralafrika - In vielen fernen Ländern hat er vieles gesehen. Anstatt für seinen langjährigen Dienst belohnt zu werden, sitzt er heute auf den kalten Marmorplatten der Barmener Innenstadt. „Die Polizei kennt mich und lässt mich hier zufrieden, denn sie wissen, dass ich bewaffnet bin“, sagt der 60-Jährige mit kratzender Stimme. Trotzdem greifen den Obdachlosen immer wieder Leute an, die ihn ausrauben wollen. Am liebsten sei es ihm, wenn die Leute, die an ihm vorbeigehen, einfach nur einen schönen Tag wünschen und ihn in Ruhe lassen. Bis auf eine Ausnahme: die Menschen vom Ennepetaler Verein „Unsichtbar e.V“. Als er diese sieht, breitet sich ein Lächeln auf seinem Gesicht aus.
Seine Geschichte ist eine von vielen und alle Menschen, die auf der Straße leben, haben eine eigene zu erzählen. Einen oder mehrere Gründe, warum sie dort sind. Die Menschen vom Ennepetaler Verein "Unsichtbar e.V." hören sich Nacht für Nacht diese Geschichten an. Dazu versorgen sie die Obdachlosen mit Schlafsäcken, Essen, Trinken und vielem mehr. Seit dieser Woche sinken die Temperaturen nun wieder in den einstelligen Bereich und ihre Arbeit wird Tag für Tag wichtiger.
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Wir fahren an einem Gebüsch in der Nähe des Walls in Wuppertal-Elberfeld vorbei. Holger Brandenburg, der Gründer des Vereins, bleibt mit dem hellgrünen Kleintransporter stehen, auf dem groß „Unsichtbar“ steht - irgendwie paradox. Im Kofferraum ist eine Art Regal mit vielen Schubladen verbaut, in denen alle möglichen Dinge zur Versorgung der Menschen gelagert werden. Auch ein Infrarot-Fernglas ist mit dabei, mit dem später versuchen wird, Menschen im Wald zu finden.
Brandenburg lässt die Scheibe herunter und ruft mehrfach den Namen einer Person in das Gebüsch hinein. Mit jedem Mal, das er keine Antwort bekommt, wird seine Stimme fragender. Normalerweise treffen sie ihn immer hier an, wo seine Zeltplane aufgebaut ist. Ob ihm etwas passiert ist? Der Mensch scheint jedoch gerade einfach woanders zu sein.
Obdachlosigkeit auch in Schwelm, Gevelsberg und Ennepetal
„Man kennt viele der Leute mittlerweile und wir bauen Beziehungen zu ihnen auf“, sagt Brandenburg. Die meiste Zeit fahren die Menschen von Unsichtbar e.V. durch Wuppertal und Hagen. In den Großstädten ist die Zahl der Obdachlosigkeit deutlich höher als in Schwelm, Ennepetal und Gevelsberg. In Wuppertal waren es im August 2023 80 Menschen, die auf der Straße geschlafen haben. Viele mehr wohnen übergangsweise in sozialen Unterkünften der Stadt. Im EN-Südkreis bewegen sich die Zahlen der in Einrichtungen untergebrachten Menschen laut „Unsichtbar“ im niedrigen zweistelligen Bereich, auf der Straße übernachten schätzungsweise nur eine Handvoll.
Lange Zeit zum Überlegen, wo sich die Person von eben aufhalten könnte, bleibt nicht, denn kurz nachdem die Fahrt weitergeht, klingelt das Telefon im Auto. Eine Frauenstimme erzählt, dass ihre Tochter auf der Straße lebe und fragt Brandenburg, ob sie ihr helfen könnten. Später treffen wir die Mutter und ihre Tochter an. Das Mädchen ist gerade einmal sechszehn Jahre alt.
Von zuhause ist sie weg, durch mehrere Wohngruppen durch. Nun ist sie mit Freunden auf der Straße unterwegs und verbringt Nächte teilweise draußen. Ihre Situation und viele weitere lassen die Helfer vom Ennepetaler Verein im Alltag teilweise nicht los. „Ich fahre zweimal im Jahr meine Mutter für eine Woche besuchen und muss, wenn ich ankomme, erst einmal lange schlafen. Du kannst das nicht einfach abhaken", sagt Brandenburg. Er vernachlässige sein Privatleben, um das anderer ein kleines bisschen besser zu machen.
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Während der Suche nach weiteren obdachlosen Menschen auf der Straße wird klar, wie Brandenburg und seine Kollegin versuchen, mit den traurigen Seiten ihres Jobs umzugehen. Sie lachen viel, machen Witze und zeigen eine gewisse Lockerheit. Das ändert sich natürlich, wenn sie aussteigen und den Menschen begegnen, die ihr schlimmes Schicksal ertragen müssen. „Das ist unser Weg, das zu verarbeiten. Wenn wir das Auto verlassen, geht es aber nicht mehr um uns“, sagt Anna Katharina Vorberg. Die Tour findet ihren Abschluss am Hagener Hauptbahnhof.
Als wir den Wagen abstellen und den ersten Menschen mit Essen versorgen, kommen immer mehr von alleine auf uns zu. Während leichter Wind geht, wird es trotz der 15 Grad etwas kühl. Was sollen Menschen machen, die nicht einfach wieder zurück ins Auto können? Ein Mann erzählt, dass er drei Kinder habe und im Gefängnis gesessen habe. Ihm kommen während seiner Erzählung die Tränen, als er das Kleingeld in seiner Tasche zeigt.
Ein anderer zeigt mehrfach voller Stolz Bilder von seiner Tochter. Er hat sie lang nicht gesehen, denn sie ist noch in Polen. Alle nehmen dankend das Essen an, aber schnell wird klar, wie viel wichtiger es den Menschen ist, einfach mal mit jemandem zu reden.
So auch beim Mann vom Anfang dieser Geschichte. Ursprünglich kommt er aus dem „Ghetto in Frankfurt“, wie er selbst sagt. Er spricht darüber, wie er seinen zwischenzeitlichen Wohnort Wetter verlassen hat, nachdem er seine verstorbene Frau die Treppe runtertragen musste. Der Schmerz über seine Vergangenheit ist ihm ins Gesicht geschrieben. Nun hat er Schwierigkeiten, in Wuppertal eine Wohnung zu finden.
Bei der Frage, was er in seinem Rucksack hat, holt er erst eine Zahnbürste und ein Handyladekabel heraus. „Wenn ich morgens um halb sechs die Augen aufmache und der Besenbomber an mir vorbeirauscht und die Toiletten im Rathaus geöffnet sind, tätige ich da meine morgendliche Wäsche.“ Privatsphäre gibt es da nicht viel.
Der restliche Inhalt überrascht etwas: ein Haufen Bücher. Er präsentiert sie stolz, fängt mit dem Koran an. Danach zeigt er reihenweise Romane. „Das kann man sich mal reinziehen“, sagt er. „Für dich“, schiebt er wissend hinterher, „ist das aber nichts“. Es ist ein Zeitvertreib, wenn er tagsüber in der Fußgängerzone sitzt und sich von der Unwissenheit ablenkt, wie es morgen weitergeht.