Warstein. Nico Klein (24) krachte mit seinem Motorrad gegen ein Polizeiauto und ist heute ein Schwerstpflegefall. Seine Familie ist für ihn da.

Wenn Nico Klein (24) gut drauf ist, kann er eine Whatsapp-Nachricht auf dem Handy lesen. „Man sieht genau, wie er dann mit den Augen arbeitet“, sagt sein Vater Peter. Wenn sein Sohn besonders gut drauf sei, könne dieser sogar rechnen. „Dann frage ich ihn: Wie viel ist eins plus zwei? Und er macht dreimal die Augen zu.“ Das Augenschließen, erklärt der 57-Jährige aus Warstein, ist Nicos einzige Möglichkeit, zu kommunizieren.

Ein Foto vor dem Unfall: Nico Klein wollte nach seiner Ausbildung zum Erzieher noch eine Elektriker-Lehre machen.
Ein Foto vor dem Unfall: Nico Klein wollte nach seiner Ausbildung zum Erzieher noch eine Elektriker-Lehre machen. © Privat | Peter Klein

Nico Klein prallte am 24. Juni 2022 auf der Kreisstraße 8 am Möhnesee mit seinem Motorrad gegen einen auf der Fahrbahn abgestellten Polizeiwagen. Eineinhalb Jahre danach ist er ein Schwerstpflegefall: „Beine und Arme sind verdreht, er kann sich nicht bewegen. Seine Schädeldecke ist auf. Immer wieder krampft er. Nahrung kann er nur über eine Magensonde aufnehmen“, beschreibt Peter Klein, wie sein Sohn gefangen im eigenen Körper ist und gleichzeitig sein Schicksal bewusst mitbekommt. „Er weiß, was passiert ist.“

Die Familie hoffe und bete, dass Nico eines Tages wieder sprechen und ein paar Schritte gehen könne, sagt Peter Klein. Er macht eine Pause und atmet tief durch: „Niemand weiß, ob das passiert. Aber wir, seine Familie, sind auf seiner Reise an seiner Seite.“

Peter Klein aus Warstein: Sein Sohn Nico (24) krachte im Juni 2022 mit seinem Pkw gegen einen auf der Fahrbahn abgestellten Streifenwagen und ist seitdem ein Schwerstpflegefall.
Peter Klein aus Warstein: Sein Sohn Nico (24) krachte im Juni 2022 mit seinem Pkw gegen einen auf der Fahrbahn abgestellten Streifenwagen und ist seitdem ein Schwerstpflegefall. © Westfalenpost | Rolf Hansmann

Peter Klein sitzt im Wohnzimmer seiner Schwester Monika Wintergalen. Sie hat in dem Internetportal „GoFundMe“ eine Spendenaktion ins Leben gerufen. „Die Familie hält unglaublich zusammen“, sagt Peter Klein und denkt an Ehefrau Dagmar (51), Nicos Zwillingsschwester Linda und Pflegekind Justus (16) sowie zahlreiche Verwandte.

Seitdem Nico in einer Wohngruppe im Haus Königsborn in Unna „liebevoll betreut“ wird, bekommt er täglich Besuch aus dem Familienkreis. Peter Klein ist, so oft es geht, bei seinem Sohn. „Dann schiebe ich ihn an die frische Luft, massiere ihn oder erzähle ihm das Neueste aus Warstein und der Welt.“ Er sehe seinem Sohn an, wenn dieser zufrieden sei. Aber auch, ob er wütend oder traurig ist: „Nico kommen immer mal wieder Tränen.“

Nico Klein war vor seinem Unfall leidenschaftlicher Rettungsschwimmer. „Das Wasser ist sein Element“, sagt Vater Peter. Mit dem Kauf eines behindertengerechten Fahrzeugs will die Familie unter anderem die Möglichkeit schaffen, Nico zwecks Therapie zu einem Schwimmbad zu bringen.
Nico Klein war vor seinem Unfall leidenschaftlicher Rettungsschwimmer. „Das Wasser ist sein Element“, sagt Vater Peter. Mit dem Kauf eines behindertengerechten Fahrzeugs will die Familie unter anderem die Möglichkeit schaffen, Nico zwecks Therapie zu einem Schwimmbad zu bringen. © Privat | Peter Klein

Als sich der Unfall ereignete, hielt sich Peter Klein gerade in einer Reha-Klinik auf. „Meine Frau und die Kinder wollten am nächsten Tag in Urlaub fahren. An einem Freitag um 22 Uhr rief mich Dagmar an und sagte: ,Die Polizei steht vor der Tür‘.“

Das Unfassbare irgendwie verarbeiten

Von einer Sekunde auf die andere änderte sich das Leben der Familie. Bis heute befinden sich Eltern und Geschwister in psychiatrischer Behandlung, müssen das Unfassbare irgendwie verarbeiten. Peter Klein kann nicht mehr arbeiten („Mein Kopf ist zu voll mit Nico“). Er hat sich für ein Leben für seinen Sohn entschieden: „Ich will für Nico da sein. Er hätte das auch für mich gemacht.“

Peter Klein macht einen gefassten Eindruck, wenn er von seinem schwerstbehinderten Sohn erzählt. Woher nimmt er die Stärke, sich vom Schicksal seines Kindes nicht unterkriegen zu lassen? „Ich habe auch Tiefpunkte“, sagt er, „aber sobald ich bei Nico bin, werde ich gelassener. Er ist meine Kraftquelle.“

In seiner Wohngruppe im Haus Königsborn in Unna fühlt sich Nico nach Angaben seines Vaters sehr wohl.
In seiner Wohngruppe im Haus Königsborn in Unna fühlt sich Nico nach Angaben seines Vaters sehr wohl. © Privat | Peter Klein

Drei Monate nach dem Unfall und mehreren Operationen hatte sich Nico wieder ganz gut berappelt. „Er konnte zwar noch nicht wieder sprechen, aber Arme und Beine bewegen und sogar lachen. Sein Geist war komplett da“, schildert Peter Klein. Dann setzte bei seinem Sohn eine Spastik ein. „Innerhalb von zwei, drei Wochen war alles wieder weg.“

In diesem Frühjahr, erzählt Peter Klein, und seine kräftige Stimme wird merklich leiser, nahm eine Ärztin ihn und seine Dagmar zur Seite. „Nico befand sich in akuter Lebensgefahr. Er hing nur noch an einer Lumbaldrainage, bei der ein Schlauch dafür sorgt, dass überflüssiges Hirnwasser abläuft.“ Die Eltern wurden gefragt, ob ein neuer Schlauch gesetzt werden sollte oder ob sie ihren Sohn gehen lassen.

Ein Bild mit Schwester Linda, als es Nico Klein nach dem Unfall etwas besser ging. Als eine Spastik bei ihm einsetzte, verschlechterte sich sein Zustand.
Ein Bild mit Schwester Linda, als es Nico Klein nach dem Unfall etwas besser ging. Als eine Spastik bei ihm einsetzte, verschlechterte sich sein Zustand. © Privat | Peter Klein

„Wir waren auf die Frage nicht vorbereitet“, sagt Peter Klein. Das Ehepaar entschied sich für Nicos Weiterleben. „Als kurz danach Keime seinen Körper weiter schwächten und seine Schädeldecke abgenommen werden musste, haben wir uns natürlich gefragt, ob wir richtig gehandelt haben“, sagt Klein, „aber ich sehe bei jedem Besuch: Nico kämpft. Es ist richtig so.“

Nico hatte viele Pläne: Nach seiner Ausbildung zum Erzieher wollte er eine Elektriker-Lehre anhängen: „Um später in einer Behindertenwerkstatt zu arbeiten“, so sein Vater. Auch als DLRG-Rettungsschwimmer war Nico für andere Menschen da. Jetzt ist er selbst auf Hilfe angewiesen.

Und er wollte sich eine Wohnung im Elternhaus einrichten. Daher will die Familie Nico unbedingt zu sich zurückholen. Zuvor muss allerdings unter anderem ein Aufzug im Haus und ein behindertengerechtes Fahrzeug angeschafft werden. Alleine diese Kosten können sich auf 100.000 Euro belaufen.

Ich will für Nico da sein. Er hätte das auch für mich gemacht.
Peter Klein,

Trotz der Kostenunterstützung durch das Sozialamt - nachdem Nicos Erspartes aufgebraucht ist - werden die Kleins finanziell einen langen Atem benötigen, um Nico eine umfassende Pflege daheim bieten zu können. Auch dafür sind Spendengelder gedacht. Bei „GoFundMe“ sind derzeit 150.000 Euro angepeilt, 100.000 Euro bereits erreicht. „Wir sind von der Hilfsbereitschaft überwältigt“, sagt Klein.

Und von der Kreativität: Seine Schwester Monika Wintergalen berichtet von dem „beleuchteten Trucker-Konvoi für Nico“ am 22. Dezember durch Warstein mit bis zu 100 Lkw. Alle Einnahmen sind für Nico gedacht. Mitarbeiter seiner Wohngruppe bringen ihn dann nach Warstein.

Hoffen auf Zivilverfahren

Ein Lichtblick für die Kleins, zumal im letzten Monat der Strafprozess gegen die beiden Polizeibeamten, die im Juni 2022 an einer Unfallstelle ihren Streifenwagen auf der Fahrbahn abgestellt hatten, nicht im Sinne der Familie verlaufen war. Den Beamten war fahrlässige Körperverletzung wegen Nichtaufstellens eines Warndreiecks vorgeworfen worden.

Nach einem Rechtsgespräch wurde ihnen auferlegt, jeweils 2000 Euro an die Luftrettung zu zahlen. „Ein hochemotionales Verfahren“, sagt Frank Seidel, Direktor des Amtsgerichts Soest auf Anfrage. „Grundsätzlich ist es in solchen Verfahren immer schwierig für Angehörige, den größtmöglichen Schaden auf der einen Seite mit einem im strafrechtlichen Sinne geringen Verschulden auf der anderen in einen Kontext zu bringen.“

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Familie Klein setzt ihre Hoffnungen auf ein Zivilverfahren gegen die Versicherung der Polizei. „Wir hoffen auf ein neues Gutachten zum Unfallhergang“, sagt Peter Klein, und dass die Schilderungen „von einem guten halben Dutzend Zeugen“ Gehör finden, die kein Blaulicht an dem Polizeiwagen gesehen haben wollen: „Nico war ein besonnener Motorradfahrer. Auch falls er von der Sonne geblendet wurde: Wenn er gewarnt worden wäre, wäre seine Maschine nicht in das Polizeiauto gekracht.“

Die Kreispolizeibehörde Soest wollte sich auf Anfrage „mit dem Verweis auf ein noch aktuell schwebendes Verfahren“ nicht äußern.

Am 26. Dezember wird die Familie in der Pflegeeinrichtung in Unna mit Nico Weihnachten feiern. „Wir werden im Wintergarten sitzen, wie bei seinem Geburtstag im Oktober“, sagt Peter Klein. Damals waren 30 Gäste dort. „Nico wird Kerzen und Geschenke wahrnehmen. Auch wenn er nicht lächeln kann, werde ich erkennen, dass er sich freut“, sagt der Vater. „Das sehe ich in seinen Augen.“

Spenden:

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