Dortmund/Arnsberg. Cold Cases: Die Polizei rollt 42 Fälle neu auf - auch den Mord an Heinrich Brüggemann. Welche Rolle spielt der Typ mit dem Zahndefekt?

Wenn der Täter noch lebt, dann ist er bis heute auf freiem Fuß. 1977 – vor fast einem halben Jahrhundert - wird der ortsbekannte Wirt Heinrich Brüggemann in seiner Wohnung in Arnsberg brutal ermordet. 25 Messerstiche. Ein seltener Revolver verschwindet. Die Tageseinnahmen aus seiner Gaststätte „Capri-Bar“ – ebenfalls weg. Der Mörder? Unbekannt. Bis heute. Aber Hinweise auf einen mysteriösen Mann gibt es, der nun gesucht wird.

In der ersten Etage des Polizeipräsidiums Dortmund, das in besonderen Fällen auch für den Hochsauerlandkreis sowie die Kreise Unna, Soest und Hamm zuständig ist, ist dieser Mord am Freitagvormittag Thema. Denn er ist einer von insgesamt 42 Fällen, die jetzt neu aufgerollt werden, weil Hoffnung besteht, sie nach Jahren und Jahrzehnten womöglich doch noch aufklären zu können.

Cold Cases: Eine Hautschuppe kann genügen für eine neue Spur

Die Ermittlungsgemeinschaft „Cold Case“, bestehend aus Kriminaltechnikern und Mordermittlern – auch solchen, die bereits im Ruhestand waren –, wollen die rätselhaften Fälle lösen: durch Zeugen, die bislang nicht oder nicht umfassend ausgesagt haben. Oder durch neue kriminaltechnische Untersuchungen. Eine einzige Hautschuppe kann genügen, die DNA eines Täters zu ermitteln.

Bei Kriminalhauptkommissar Gregor Schmidt laufen die Fäden zusammen. „Mord verjährt nicht. Kein Täter sollte sich zu sicher sein“, sagt der Leiter der Ermittlungsgemeinschaft, die auch den Fall des elfjährigen Marc Gutte prüfen wird, der 1986 in einem Maisfeld in Unna tot aufgefunden wurde. Die Dekorateurin Heike Kötting (28) wurde 1991 in ihrem Reihenhaus in Dortmund-Scharnhorst erstochen. Kommenden Mittwoch wird der Fall bei „Aktenzeichen XY“ im ZDF ausgestrahlt. Der älteste Fall datiert aus 1966.

Ein Bild, das die Polizei bereitstellt: Entdeckt wird der Mord an Heino Brüggemann am nächsten Morgen. Mitbewohner stoßen vor dem Haus Grafenstraße 32 auf umgekippte Blumenkübel und wollen deshalb Hausbesitzer Brüggemann informieren. Der Stiefvater öffnet mit einem Zweitschlüssel die Wohnungstür und findet den blutüberströmten Gastwirt tot auf dem Fußboden des Badezimmers.
Ein Bild, das die Polizei bereitstellt: Entdeckt wird der Mord an Heino Brüggemann am nächsten Morgen. Mitbewohner stoßen vor dem Haus Grafenstraße 32 auf umgekippte Blumenkübel und wollen deshalb Hausbesitzer Brüggemann informieren. Der Stiefvater öffnet mit einem Zweitschlüssel die Wohnungstür und findet den blutüberströmten Gastwirt tot auf dem Fußboden des Badezimmers. © FUNKE Foto Services | Andreas Buck

Heinrich Brüggemann, den viele nur Heino nennen, dreht in jener verhängnisvollen Juli-Nacht 1977 den Zapfhahn der „Capri-Bar“ am Alten Markt schon früher zu als üblich. So berichtet diese Zeitung zuletzt 2009 über den Fall. Angeblich will der damals 37-Jährige in seiner Dachgeschosswohnung in der Grafenstraße im Spätprogramm den Edgar-Wallace-Thriller „Der Hund von Blackwood Castle“ schauen. Er wird die Nacht nicht überleben. Auf dem Weg nach Hause wird er von Zeugen noch gesehen. Allein.

Fall Arnsberg: DNA-Spuren am Tatort gesichert

„Wir gehen davon aus, dass Täter und Opfer sich kannten. Es waren keine Aufbruchsspuren erkennbar, wahrscheinlich hat das Opfer den Täter also mit nach Hause genommen oder in die Wohnung hinein gelassen“, sagt Ermittler Gregor Schmidt. Der Wirt sei homosexuell gewesen, eine DNA-Spur sei sichergestellt worden: an einem Kondom, das laut Schmidt im Bett des Opfers gefunden wurde. Ein Abgleich mit der Datenbank des Bundeskriminalamtes brachte keinen Treffer.

Ein weiteres Bild, das die Polizei am Tatort macht, zeigt das Schlafzimmer von Heino Brüggemann.
Ein weiteres Bild, das die Polizei am Tatort macht, zeigt das Schlafzimmer von Heino Brüggemann. © FUNKE Foto Services | Andreas Buck

„Interessant für uns ist in diesem Zusammenhang ein junger Mann, den Herr Brüggemann Tage vor der Tat traf“, sagt Schmidt. 18 bis 20 Jahre alt, dunkle Haare, eventuell Zahndefekt. Sie lernten sich in der Gaststätte „Sternkeller“ kennen, wo der junge Mann mit einem 20 Zentimeter langen Messer hantiert haben soll. Dabei berichtete er, dass er seine Ausbildungsstelle verloren habe, weil er die Berufsschule geschwänzt habe. „Diese Person ist für uns wichtig“, sagt Schmidt. Er könnte der Täter sein – oder Hinweise geben.

Raubmord hatten die Ermittler zunächst ausgeschlossen. Doch die Tageseinnahmen fehlten – sowie ein verchromter Revolver vom Typ „Torjas Taurus SA Cal. 38“ mit elfenbeinfarbigen Griffschalen. Doch die in Deutschland sehr seltene 9-Millimeter-Waffe aus brasilianischer Fabrikation blieb bisher unauffindbar.

„Unsere Erfahrung ist, dass Hinterbliebene erst abschließen können, wenn die Täter gefasst sind.“
Gregor Schmidt, Leiter der Ermittlungsgemeinschaft „Cold Case“

Die Ermittlungen in Altfällen sind mühsam, kleinteilig, manchmal vergebens. Aber eben nicht immer. Der Fall der Dortmunder Schülerin Nicole-Denise Schalla, die 1993 ermordet wurde, konnte 25 Jahre später aufgeklärt werden. Der Täter erhielt lebenslänglich. 1987 wurde Ursula Scheiwe in Ostönnen im Kreis Soest mit 74 Messerstichen getötet. Ihren Mörder machte die Polizei 23 Jahre nach der Tat ausfindig.

Quälende Ungewissheit für die Hinterbliebenen

„Wenn wir drei oder vier dieser 42 Fälle nachträglich lösen können, wäre das schon ein Erfolg“, sagt Gregor Schmidt. Im Fall einer versuchten Tötung in Möhnesee (1990) wurde das Opfer erfolgreich unter Hypnose zum Tatgeschehen und zum Aussehen des Täters befragt. In anderen Fällen werden die archivierten Folien, mit denen Leichname Stück für Stück abgeklebt werden, um Spuren langfristig zu sichern, erneut untersucht. Folien, die man sich wie dickere Tesa-Film-Streifen vorstellen kann. Etwa 100 pro Leichnam. In der Abteilung Mikrofaser dauert die Untersuchung eines Streifens einen Tag. Wird etwas gefunden, geht der Hinweis an die DNA-Abteilung.

„Es ist spannend, das Puzzle nach und nach zusammenzusetzen – mögen die einzelnen Teile auch noch so klein sein“, sagt Gregor Schmidt. Das sei man den Opfern und deren Angehörigen schuldig. „Unsere Erfahrung ist, dass Hinterbliebene erst abschließen können, wenn die Täter gefasst sind.“ Das gebe ihnen den Glauben an Gerechtigkeit zurück. „Die Angehörigen“, sagt Georg Schmidt, „rufen auch Jahre nach den Fällen noch an, um zu fragen, wie der Ermittlungsstand ist.“ Die Ungewissheit quält sie zu sehr.