Hagen. . Sie war 16 und er 39. Trotzdem haben sich Ralf und Lea Annertzok verliebt. Das war im Jahr 2002. Sie sind noch heute verheiratet und haben zwei Kinder.

Als Lea Annertzok ihren späteren Mann zum ersten Mal sah, hätte sie nie gedacht, dass ihm einmal ihr Herz gehören würde. Sicher, sie fand ihn interessant, aber es war ganz gewiss keine Liebe auf den ­ersten Blick. „Ich bin Lea“, sagte sie. „Ich bin Ralf“, brummelte er und ließ sie stehen.

Das war 2002, sie war 16 und er 39. Heute sind sie beide davon überzeugt, alles richtig gemacht zu haben. Im Freundes- und Bekanntenkreis hatte es geheißen, dass aus ihrer Liebe nichts werden könne. Bei diesem Altersunterschied! Dass sie eine durchtriebene Lolita und er bestenfalls auf ein sexuelles Abenteuer mit einem blutjungen Mädchen aus sei. Dabei hätten sie im ­ersten Jahr ihrer Beziehung gar nicht miteinander geschlafen, berichtet Lea Annertzok. Sie haben damals viele ihrer Freunde verloren und wissen heute, wer ihre richtigen Freunde sind.

Lea Annertzok war schon immer anders als andere junge Frauen. Sie ist ein Kopfmensch, sie weiß ganz genau, was sie will. Sie ist mutig. Damals mit 16 wollte sie eigentlich nur ein bisschen flirten, doch irgendwann stellte sie fest, dass gerade jener Mann, der sich nicht für sie zu interessieren schien, die Liebe ihres Lebens war. Ralf Annertzok war bereits verheiratet, er hatte einen Sohn, er fragte sie: „Ist dir klar, was das bedeutet?“

Der Abstand, den die 23 Jahre, die zwischen den beiden liegen, ausmachen, reduziert sich erheblich, wenn ein Kopfmensch die Beziehung führt. Von Lea Annertzok bekommt man Sätze zu hören wie: „Das wäre wirtschaftlich unklug.“ „Ich bin ein Freund von festen Regeln.“ „Ich trinke nicht und ich rauche nicht.“ Würde sie nicht in nahezu jeder Situation die Nerven behalten, wer weiß, ob sich alles so gedeihlich entwickelt hätte, damals, als sich die Probleme vor ihnen auftürmten.

Einzug ins Kinderzimmer

Partnerschaft hängt nicht von Altersdifferenz ab

„Wenn zwei sich lieben, spielt das Alter keine Rolle.“ Diese Meinung vertritt Dr. Rudolf Sanders, Leiter der katholischen Eheberatung in Hagen. Der promovierte Philosoph hält nichts von vermeintlich wissenschaftlichen Studien, nach denen eine Trennung umso wahrscheinlicher ist, je mehr Jahre die Partner trennen.

Zwar weiß auch Sanders zu berichten, dass das Trennungsrisiko in Deutschland bei ungefähr 50 Prozent liegt, dass also die Hälfte aller Beziehungen irgendwann in die Brüche geht. Doch das habe nichts mit der Altersdifferenz zu tun. Entscheidend für das Gelingen einer Partnerschaft sei vielmehr die Liebe: „Und lieben heißt, den anderen so zu sehen, wie er ist. Das Schöne im anderen zu sehen.“ Das sei wie bei Michelangelo, der im weißen Marmorblock schon vor der Arbeit das Schöne, die Pieta, gesehen habe.

Selbstredend dürfe man sich nichts vormachen, was das abweichende gesundheitliche Befinden, die Lebenserwartung, die Interessenslage von zwei Partnern mit großem Altersunterschied angehe, so Sanders. Deshalb sei das Gedeihen einer Beziehung bei in etwa gleichem Alter einfacher. Doch Beziehungen kämen zustande, weil man sich verliebe: „Und das geschieht, weil man nicht bleiben will, der man ist. Man will der werden, der in einem angelegt ist.“ Daher verliebten wir uns unbewusst in einen Menschen, mit dem das gelingen könne. Zur Bekräftigung zitiert Sanders den Philosophen Martin Buber: „Am Du zum Ich werden.“

Die ersten Lebensjahre seien prägend dafür: „Wie das Sprechen lernen wir von den Eltern auch, wie wir uns in einer Beziehung verhalten.“ Aus seiner langjährigen Berufserfahrung nennt er das Beispiel eines jungen Mannes, der von seiner strengen Mutter wenig Liebe erhalten habe und die Sehnsucht nach diesem so unentbehrlichen Gefühl als Erwachsener in der Partnerschaft mit einer 15 Jahre älteren Frau gestillt fand.

Nachdem Ralf Annertzok mit seiner ersten Frau reinen Tisch gemacht hatte, stand er bei seiner neuen Freundin vor der Tür. Besser gesagt, er stand bei ihren Eltern vor der Tür. Die Eltern schluckten. Denn die 16-Jährige wohnte noch im Kinderzimmer, und nur, weil die Eltern spürten, wie es um ihre Tochter stand, und weil sie sagten, wenn das der Mann ist, der dir gut tut, dann unterstützen wir diesen Weg, durfte der Fremde die Schwelle überschreiten und mit ins Kinderzimmer ziehen. „Erst dass ich kurz darauf zu Ralf, der eine 30-Quadratmeter-Wohnung gefunden hatte, gezogen bin, das haben sie mir übel genommen“, sagt Lea Annertzok.

Ralf Annertzok ist ein stiller Mensch, der sich gern abseits hält. Die Initiative wäre wohl nie von ihm ausgegangen. Dass das Mädchen, das ihn auf einem Ritterfest am ­Wasserschloss Werdringen ansprach, einmal seine Frau werden könnte, das hätte er nie und nimmer für möglich gehalten.

Ein Verhältnis mit einer 16-Jährigen, das kam für ihn nicht in Frage. Aber wenn er sich mit ihr unterhielt, dann war sie nicht 16. „Sie war anders als andere. Sie war weiter. Ihre Gesprächsführung hat mir gefallen. Und irgendwann kamen dann die Gefühle zum Vorschein, das war ein Prozess, der lief über mehrere Stationen.“ Seine Frau sei auch heute noch anders als andere Frauen, fügt er hinzu.

Er bestätigt, dass Sex anfangs kein Thema zwischen ihnen gewesen sei. Dass sie immer Respekt voreinander gehabt hätten und sich als Team sehen würden. „Wir haben die Kopf- vor der körperlichen Beziehung gegründet.“ Und dass der Altersunterschied im täglichen Zusammenleben keine Rolle spiele. Sie haben sich ein gemeinsames Leben aufgebaut, 2012 geheiratet, sie leben mittlerweile in einer 115-qm-Wohnung, fahren einen Neuwagen, den Zwillingen Erik und Freyja wollen sie ihre Werte vermitteln: „Familie und Natur.“ Ralf Annertzok ist Automatenschweißer bei einer Firma in Gevelsberg, seine Frau Krankenschwester. Was sie besitzen, haben sie sich hart erarbeitet.

Der Schmerz der stillen Stunden

Aber machen sich die 23 Jahre denn nie bemerkbar, wir sind doch gekommen, um neben den Vorteilen auch über die Probleme zu berichten, die sich aus solch einer Generationenbeziehung ergeben können? Dass der Bankberater Lea Annertzok einmal mit den Worten begrüßte: „Ach, da sind Sie ja mit Ihrem Vater“, das ist ja bloß eine Randnotiz. Und doch mag es bisweilen hart sein für Ralf Annertzok, mit einem Kopfmensch zusammen zu leben, er sagt dazu nichts. Immerhin weiß er ­immer, wo er dran ist. „In den stillen Stunden im Beruf erlebe ich den Schmerz“, sagt Lea Annertzok. Wenn die Kolleginnen von ihren Männern erzählen und sich zulächeln und schwärmen, irgendwann würden sie zusammen alt, dann wisse sie, dass sie allein sein werde. Ob ihr Mann erkranken und sie eines Tages nicht mehr erkennen wird?

Die Ängste einer jungen Frau

Es sind die Ängste einer jungen, das Leben liebenden Frau, die nichts dem Zufall überlassen möchte, aber in die Zukunft kann auch Lea Annertzok nicht schauen. Sie hatten eine große Krise, das war, als sie Kinder wollten. „Das muss geschehen, bevor du 50 bist, sonst müssen sich unsere Wege trennen, so groß die Liebe auch ist“, habe sie ihm gesagt. Und sie mussten kämpfen, wie sie eigentlich immer um alles kämpfen mussten, erst nach drei Versuchen in der Kinderwunschklinik und etlichen Medikamenten stellte sich der gewünschte Erfolg ein.

Ob sie ihn sonst wirklich verlassen hätte, wollen wir wissen. „Ja, hätte ich getan“, bekräftigt Lea Annertzok: „Ich wollte nicht mit 30 auf dem Sofa sitzen und einen Chihuahua ankleiden, weil ich keine Kinder habe.“

Es mag bisweilen hart sein für Ralf Annertzok, mit einem Kopfmensch zusammen zu leben, er sagt dazu nichts. Alles ist hart erarbeitet. Sie sind ein Team, seine Frau und er. Manchmal schiele sie abends zu ihm rüber, sagt sie, und denke so bei sich: „Ja, es ist gut, wie es ist.“ Wenn sie das nicht denken würde, wäre sie nicht mehr da.