Berlin. Eine neunfache Mutter berichtet, warum es so schwer ist, wenn die Kinder ausziehen. Eine Paartherapeutin gibt Paaren wichtige Tipps.
Plötzlich ist er da, der Tag, an dem das geliebte Kind, das man doch gerade erst nächtelang in den Schlaf begleitet hat, auszieht. Die neunfache Mutter Stephanie Lüßem aus der Nähe von Düren hat das in diesem Jahr gleich zweimal erlebt. Anfang des Jahres zog ihre 19 Jahre alte Tochter Leonie aus – der Ausbildung wegen. Vor wenigen Wochen folgte ihre 21 Jahre alte Tochter Celina – weil sie schwanger ist und selbst eine Familie gründet.
Für die 40-Jährige war es beide Male nicht leicht. Vor allem der erste Auszug eines ihrer Kinder war eine Zäsur für die Mutter. „Das war wirklich sehr schrecklich für mich. Es war sehr emotional, ich habe lange und viel geweint“, sagt Stephanie Lüßem. „Als Mama denkt man immer, dass die Kinder für immer bleiben, ein Auszug noch ewig weit weg ist – auch wenn mir natürlich immer bewusst war, dass meine Kinder irgendwann ausziehen werden.“
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Den jüngsten Daten des Statistischen Bundesamtes zufolge ziehen Kinder in Deutschland im Schnitt mit 23,9 Jahren von zu Hause aus – Mädchen etwas früher als Jungen. Mehr als ein Viertel der 25-Jährigen lebte 2023 demnach allerdings noch bei den Eltern. Bei den 30-Jährigen waren es noch knapp zehn Prozent. Danach ging der Anteil weiter deutlich zurück.
Auszug der Kinder: Eltern müssen Partnerschaft neu definieren
Doch egal, wann die eigenen Kinder letztlich ausziehen – fest steht: Mit dem Auszug beginnt für alle Beteiligten ein neuer Lebensabschnitt. Sind die Ausgezogenen mit vielen neuen Herausforderungen beschäftigt, verfallen die Zurückgebliebenen oft in Nostalgie. So auch Stephanie Lüßem. „Die Kinderzimmer der beiden Großen waren recht schnell wieder bewohnt. Jedes Kind hat jetzt sein eigenes Zimmer“, sagt sie. „Für mich war es ein ganz komisches Gefühl, als alles fertig war, fast beklemmend. Daran habe ich gesehen, dass die Reise vorbei ist – die Kindheit, die Jugend. Jetzt habe ich erwachsene Kinder und daran muss ich mich erst noch gewöhnen.“
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Dass Stephanie Lüßem der Auszug ihrer Kinder so schwerfalle, sei völlig normal, erklärt die Kölner Paartherapeutin Claudia Brinkmann. Sie betont jedoch auch, dass es für die meisten Paare erst so richtig schwer werde, wenn alle Kinder aus dem Haus sind. „Dann bricht ein großer Teil des Lebens weg, ein gemeinsames Projekt, das man in der Partnerschaft hatte. Eins, dem man sehr viel Zeit widmet und das auch oft im Mittelpunkt der Partnerschaft steht“, sagt sie. „Das kann schwer sein und es kann auch mit Trennungsschmerz verbunden sein.“
Zwar dauert es noch etwas, bis bei Stephanie Lüßem und ihrem Partner Thomas alle Kinder aus dem Haus sind – der Kleinste ist noch kein Jahr alt –, dennoch malt sich die Neunfach-Mutter schon jetzt aus, wie es dann sein wird. Die gelernte Kinderpflegerin will später auch beruflich wieder mit Kindern arbeiten, sich um ihre Enkelkinder kümmern, aber auch viel Zeit zu zweit mit ihrem Partner verbringen. „Ich freue mich aufs Reisen und darauf, all die Dinge nachzuholen, die wir jetzt wegen der Kinder nicht machen können“, sagt sie. Ein guter Ansatz.
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Häufiger Grund für eine Trennung? Die Kinder ziehen aus
Weil sich so ein großer Teil im Leben ändere, wenn alle Kinder ausgezogen seien, sei auch eine große Anpassung nötig, betont Paartherapeutin Brinkmann. „In der Paarbeziehung entsteht mit dem Auszug sehr viel leerer Raum und der muss neu gefüllt werden.“ Die Person, die mehr Zeit mit den Kindern verbracht und mehr Sorgearbeit geleistet habe, habe oft einen stärkeren Trennungsschmerz, weiß Brinkmann aus Erfahrung. „Das liegt darin begründet, dass diese Person sich stärker mit der Elternrolle identifiziert hat und dadurch meist ein Stück weit die eigene Identität verliert.“
Sich danach im neuen Lebensabschnitt zurechtzufinden und neu zu definieren, gelingt nicht jedem Elternteil. Eine Analyse der Universität Heidelberg aus dem Jahr 2010 zeigt zudem, dass der Auszug der Kinder – in der Wissenschaft auch „empty nest“-Effekt genannt – die Wahrscheinlichkeit erhöht, dass sich Paare trennen.
„Das liegt daran, dass mit dem Auszug das gemeinsame Projekt abgeschlossen ist und das Paar dann oft feststellt, dass es sich auseinandergelebt hat“, bestätigt die Paartherapeutin. „Weil das Kind oder die Kinder so viel Raum eingenommen haben, gab es keine wirkliche Paarzeit. Also keine Zeit, in der einander zugehört wurde und Wünsche und Bedürfnisse geteilt wurden.“ Ergänzend kamen die Heidelberger Wissenschaftler zu dem Schluss, dass Kinder, solange sie mit im Haushalt leben, die Beziehungsstabilität der Eltern positiv beeinflussen.
Eltern, denen die Anpassung nach dem Auszug der Kinder schwerfällt und deren Beziehung leidet, empfiehlt die Paartherapeutin, offen und ohne Schuldzuweisungen und Beurteilungen über die eigenen Gefühle zu sprechen. „Es ist außerdem wichtig, die eigenen Bedürfnisse zu spüren und gut mitteilen zu können“, so Brinkmann. Eine Übung, die dabei helfe, sei etwa der sogenannte „Liebende Papagei“.
Hilfreiche Übung für Paare
Die Methode „Liebender Papagei“ ist eine Übung aus der Paartherapie, bei der einer der Partner das Gesagte des anderen in eigenen Worten liebevoll und verständnisvoll wiederholt – und umgekehrt. Ziel ist es, Missverständnisse zu vermeiden und sicherzustellen, dass sich beide wirklich gehört und verstanden fühlen.
So funktioniert’s:
- Der erste Partner äußert seine Gedanken oder Gefühle zu einem bestimmten Thema – ohne dabei unterbrochen zu werden.
- Der andere Partner wiederholt das Gehörte in eigenen Worten und überprüft so, ob er alles richtig verstanden hat. Sätze wie „Wenn ich dich richtig verstehe, fühlst du dich…“ können dabei hilfreich sein.
- Der erste Partner kann dann bestätigen, dass alles richtig verstanden wurde oder entsprechend korrigieren, bis beide das Gefühl haben, dass es keine Missverständnisse mehr gibt.
- Danach wird alles in umgekehrter Reihenfolge wiederholt und der zweite Partner beginnt damit, seine Gedanken und Gefühle zum Thema zu äußern.
Diese Methode fördert Empathie und aktives Zuhören und schafft Raum für einfühlsame und respektvolle Kommunikation.
Neuanfang für Beziehung: Auszug als Chance für die Partnerschaft sehen
Die Paartherapeutin sieht in solchen Umbruchphasen eine Chance für die Partnerschaft und die Individuen darin. „Wenn die Kinder ausgezogen sind, geht es auch darum, den neuen Lebensraum, der nun entstanden ist, zu füllen“, sagt die Paartherapeutin. „Der leere Raum bietet die Möglichkeit zur Selbstentfaltung, die vielleicht vorher zu kurz gekommen ist.“
Jedes Paar sollte sich deshalb zu diesem Zeitpunkt ein paar Fragen stellen, sagt sie: „Wie wollen wir eigentlich leben? Wie stellen wir uns die Zukunft vor? Was können gemeinsame Projekte sein? Wie können wir anders kommunizieren, als wir das bislang getan haben? Wie können wir uns neu entdecken?“
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Es sei wichtig, schöne Momente miteinander zu erleben und das gemeinsame Glück und die Zweisamkeit zu genießen, statt sich in Trauer und Schmerz über den Auszug zu verlieren. „Ob das ein gemeinsames Hobby ist oder abends zusammen auf ein Date gehen“, sagt Brinkmann, „durch derartige Momente als Paar entstehen die schönen Gefühle. Das beflügelt die Nähe und kann die Beziehung noch mal ganz neu beleben.“
Neunfach-Mutter Stephanie Lüßem hofft, dass ihr und ihrem Partner Thomas genau das gelingt und sie ihr Zukunftspläne auch in die Tat umsetzen werden, wenn ihre Kinder irgendwann alle ausgezogen sind. Aktuell überwiegt jedoch die Trauer über den Auszug der ersten beiden Kinder – auch weil diese im Familienalltag eine wertvolle Unterstützung waren.