Berlin. Eine offene Ehe bietet neue Erfahrungen und Freiheiten – auch für Eltern. Allerdings sind die Herausforderungen andere als ohne Kinder.

Beziehungen erleben zunehmend neue Formen und Dynamiken. Eine davon ist die offene Ehe. Die Idee: Eine Partnerschaft, in der es erlaubt ist, auch außerhalb der Beziehung andere Partner und sexuelle Begegnungen zu haben. Doch lässt sich dieses Konzept auch erfolgreich umsetzen, insbesondere wenn Kinder Teil der Familie sind? „Ich bin überzeugt, dass eine offene Ehe auch trotz Kinder gut funktionieren und gewisse Vorteile haben kann“, sagt Nina Grimm, Familienpsychologin und Paartherapeutin.

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Offene Ehe trotz Kindern: Das sind die Herausforderungen

Die Therapeutin ist selbst Mutter von zwei Kindern und führte mit ihrem Mann bereits eine offene Beziehung. Einer der größten Denkfehler bei dem Konzept sei oft, dass Paare ihre Beziehung aus einem Mangel heraus öffneten. Das könne potenziell gefährlich sein, so Grimm. „Ich würde empfehlen, erst einmal zu gucken, wie man seine Zweisamkeit wieder beleben kann, bevor man öffnet.“ Die Öffnung sollte keine Flucht aus dem Familienalltag sein, warnt die Therapeutin.

Eine offene Beziehung hat Familienpsychologin und Paartherapeutin Nina Grimm selbst schon mal geführt.
Eine offene Beziehung hat Familienpsychologin und Paartherapeutin Nina Grimm selbst schon mal geführt. © Nicole Tie

Eine offene Beziehung bringe – wie jede andere Beziehungsform auch – immer gewisse Herausforderungen mit sich, betont die Expertin. „Und Kinder verstärken diese noch einmal. Durch sie kommen zusätzliche Verantwortung und Veränderungen dazu.“ Gerade in der frühen Elternschaft sei erst einmal Funktionieren angesagt, vielen Paaren fehle die Zeit füreinander oder für Sex.

Das weiß auch Anouk Algermissen, ebenfalls Psychologin und Paartherapeutin: „Eine offene Beziehung zu führen, wenn man Kinder hat, ist einfach noch einmal eine andere Art der Herausforderung als ohne Nachwuchs: Es braucht nicht nur eine sehr gute Paarkommunikation – auch der Dialog mit den Kindern ist von entscheidender Bedeutung.“

In ihrer Praxis hat die Paartherapeutin bereits mit mehreren Paaren gesprochen, die Eltern sind und eine offene Beziehung leben oder von einer monogamen zu einer offenen Beziehung gewechselt sind. „Dabei stellten sie sich die Frage, ob und wie sie mit ihren Kindern darüber sprechen sollten“, berichtet Algermissen.

Offene Ehe – Sollte man mit den Kindern darüber sprechen?

Grimm sagt: „Ich finde es wichtig, dass wir mit unseren Kindern darüber offen sprechen, aber tatsächlich erst, wenn sie beginnen, Fragen zustellen.“ Das sei meistens ab dem 10. bis 12. Lebensjahr der Fall, wenn sie entwicklungspsychologisch in der Lage seien, Beziehungen in ihrer Komplexität zu erfassen.

Die Paartherapeutin Anouk Algermissen hat in ihrer Praxis bereits Eltern beraten, die eine offene Beziehung führen.
Die Paartherapeutin Anouk Algermissen hat in ihrer Praxis bereits Eltern beraten, die eine offene Beziehung führen. © Annika Fußwinkel

„Bis dahin würde ich die anderen Personen schlicht und ergreifend als Freunde des Partners einführen – ein Freund von Mama, mit dem sie sich trifft und den sie gerne hat.“ Algermissen ergänzt: „Erklärt man zu wenig, merkt man das meist daran, dass das Kind Nachfragen stellt. Darauf sollten Eltern sich einstellen und sich vorher überlegt haben, wie sie darauf reagieren wollen.“

Die Therapeutin rät dazu, immer auch die Perspektive des Kindes einzunehmen und sich zu fragen: „Was hätte ich in dem Alter von meinen Eltern gebraucht? Was ist gerade eigentlich die Sorge, die mein Kind haben könnte?“ Über diese Empathie bekomme man meistens schon gute Ideen, wie man das Gespräch mit seinem Kind gestalten könnte.

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Offene Ehe und Familie – Tipps der Psychologinnen

Damit die offene Beziehung trotz Kindern funktioniert, gibt es neben einem gelungenen Gespräch noch weitere Tipps:

1. Zeit schaffen: Kinder brächten Grimm zufolge selbst Beziehungsbedürfnisse mit. Das sei nochmal eine zusätzliche Organisationsaufgabe. „Eine offene Beziehung kann bei einem ohnehin eng getakteten Terminkalender einer Familie ein weiterer Stressfaktor sein. Man muss Zeit für alle schaffen.“ Dafür erfordere es gute und ehrliche Absprachen, so Algermissen.

2. Klare Regeln: „Es ist ratsam, klare Regeln und Grenzen für die offene Beziehung und das Familienleben festzulegen, um Struktur und Sicherheit zu schaffen“, empfiehlt Algermissen. Vielleicht gebe es eine bestimmte Uhrzeit, zu der man trotz Dates immer zu Hause sein sollte. „Es braucht auch Regeln für den Fall, dass man ein Date hat, das Kind aber krank ist. Wie gehen wir als Paar damit um?“

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Kinder brauchen Struktur und Sicherheit – trotz der offenen Beziehung müssen klare Regeln gelten und Zeit für alle Familienmitglieder geschaffen werden. © Shutterstock / fizkes | fizkes

3. Sicherheit geben: In der Kommunikation mit den Kindern ist laut Algermissen wichtig, zu überlegen: „Welche Gedanken könnte das Kind haben? Oft ist das die Frage danach: Wie verändert sich mein Leben, bekomme ich dadurch weniger Aufmerksamkeit von Mama und Papa?“ Es gelte, dem Kind zu zeigen, dass ihm durch das Modell nichts genommen wird. Und zwar, indem man ihm genug Raum für Fragen gibt und ihm gut zuhört. „Wenn sich durch die offene Ehe etwas verändert, weil Mama zum Beispiel nicht mehr jeden Abend eine Geschichte vorliest, ist es entscheidend, ehrlich zu sein und die konkreten Veränderungen anzukündigen“, so Algermissen. Ansonsten könne Unsicherheit beim Kind entstehen.

4. Flexibel bleiben: Nina Grimm hat es selbst in ihrer offenen Beziehung erlebt: „Als ich mit unserem zweiten Kind schwanger wurde, wollte ich die offene Beziehung nicht mehr. Ich hatte ein erhöhtes Sicherheitsbedürfnis und wollte meinen Mann nah an meiner Seite haben.“ Sie warnt: „Die offene Beziehung darf nicht als in Stein gemeißelt betrachtet werden.“ Gerade wenn man Kinder habe, gebe es so viele neue Lebensabschnitte im Leben des Kindes und der Eltern, die berücksichtigt werden müssten. Regeln dürften variabel sein und Paare sollten die Ehe jederzeit wieder schließen können.

Vorteile der offenen Ehe trotz Familie

Auch wenn es einige Herausforderungen gibt, zeigen die Erkenntnisse von Algermissen und Grimm, dass eine offene Ehe trotz Kinder möglich ist, wenn die Bedürfnisse aller Familienmitglieder berücksichtigt und eingeplant werden. Dann kann das Modell viele Vorteile für die Beteiligten bereithalten: „Ich denke“, so Grimm, „für Kinder liegt eine Chance darin, zu lernen, dass wir uns um unsere Beziehungsbedürfnisse kümmern und dafür sorgen, dass es der Paarbeziehung gut geht.“ Wenn sie sehen würden, dass die Eltern sich etwas Gutes tun und dass dadurch ein Fundament entsteht, von dem aus diese für ihre Kinder da sein können, sei das sicherlich wertvoll.

Die Psychologin erklärt es so: „Wenn es beispielsweise so aussieht, dass Mama loszieht und einen erfüllten Tag oder eine Nacht mit jemand anderem verbringt, während Papa eine schöne Zeit mit dem Kind hat, und am nächsten Tag alle gemeinsam eine glückliche Stunde miteinander haben, kann das sehr viel mehr wert sein als, wenn die Familie das ganze Wochenende frustriert miteinander verbringt.“ Qualität sei wichtiger als Quantität.