Berlin. Die Rechtsaußen-Partei verhilft einem Antrag von Unions-Kanzlerkandidat Friedrich Merz zur Mehrheit. Es ist nur der erste Schritt.
Der Bundespräsident sagt den Satz zweimal, damit ihn wirklich jeder hört: „Nehmt die Feinde der Demokratie ernst.“ Es ist 12.36 Uhr am Mittwochmittag. Der Bundestag erinnert an die Befreiung des NS-Vernichtungslagers Auschwitz vor 80 Jahren. Zwei Stunden später ist Frank-Walter Steinmeiers Appell der dröhnende Unterton der Debatte über einen härteren Kurs in der Migrationspolitik. Olaf Scholz wirft Friedrich Merz vor, mit der extrem rechten AfD „gemeinsame Sache zu machen“. Merz kontert: Die Demokratie sei auch in Gefahr, wenn der Wille der Mehrheit dauerhaft ignoriert werde. AfD-Chefin Alice Weidel ist am Abend die jubelnde Dritte: Die AfD verhilft zum ersten Mal einem Antrag der Union zur Mehrheit – für sie ist es ein Triumph.
Der Ton im Parlament ist scharf, der Respekt aufgebraucht, die Vorwürfe massiv. In dreieinhalb Wochen wird gewählt – doch die aggressive Stimmung hat einen anderen, tieferen Grund: Nach den Anschlägen von Magdeburg und Aschaffenburg steht die deutsche Politik vor einer historischen Zäsur. Bereits an diesem Mittwoch stehen zwei Anträge der Union zur Abstimmung: Der Antrag für schärfere Regeln in der Migration findet am Abend mit den Stimmen der AfD eine Mehrheit. Auch die FDP stimmt zu. Ende der Woche könnte sogar zum ersten Mal ein richtiges Gesetz mit den Stimmen der AfD beschlossen werden. Die Union will es am Freitag einbringen – die extrem Rechten wollen zustimmen.
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Merz und Scholz liefern sich vor der Abstimmung einen wütenden Schlagabtausch: Scholz wirft Merz vor, rechtswidrige „Scheinlösungen“ anzustreben, er droht ihm mit dem Urteil der Geschichte. Kein Kanzler in der Geschichte der Bundesrepublik habe es je gewagt, sich gegen Europa zu stellen. „Das größte Land der EU würde offen EU-Recht brechen, so wie das bisher nur Viktor Orban in Ungarn wagt.“ Scholz warnt: „Das ist die Antwort der Populisten.“ Dann greift Scholz Merz persönlich an: Er habe gesagt, er wolle wie beim Pokerspiel „all in“ gehen, wenn er seine Migrationsforderungen im Bundestag zur Abstimmung stelle. Aber: „Ein deutscher Bundeskanzler darf kein Zocker sein. Denn er entscheidet im schlimmsten Fall über Krieg oder Frieden.“ Zudem sei es in Deutschland nicht gleichgültig, ob man mit den extremen Rechten zusammenarbeite – das sei immer der Konsens der Demokraten gewesen. Diesen habe Merz „im Affekt“ aufgekündigt, indem er die Unterstützung der AfD offen in Kauf nehme, prangert Scholz das Vorgehen des CDU-Chefs an. „Das ist ein schwerer Fehler! Das ist ein unverzeihlicher Fehler!“
Um 14.38 Uhr steht der Mann auf, den die Linke „Trump 2.0“ nennt, bei dem auch Robert Habeck schon einen deutschen Viktor Orban heraufziehen sieht. Merz wollte mit seinem Hauruck-Manöver in der Migrationspolitik den Wahlkampf zuspitzen, hat jetzt aber eine massive Debatte über seine Glaubwürdigkeit als Anti-AfD-Bollwerk an der Backe: Der CDU-Mann beginnt wohl auch deswegen mit einer Attacke auf AfD-Urgestein Alexander Gauland, der die NS-Herrschaft einst als „Vogelschiss der Geschichte“ heruntergespielt hatte. Angesichts der berührenden Worte des Holocaust-Überlebenden Roman Schwarzman erinnert Merz Gauland an dessen geschichtsvergessenes Zitat.
Dann knöpft sich Merz seinerseits den Kanzler vor – der in den Augen der Union keine Antworten habe auf tödliche Anschläge wie in Magdeburg und Aschaffenburg: „Wie viele Kinder müssen noch Opfer solcher Gewalttaten werden“, fragt Merz. Was müsse noch passieren?
Friedrich Merz: Der CDU-Chef bezeichnet die Vorwürfe des Kanzlers als „infam und niederträchtig“
In wütendem, fast trotzigem Ton verteidigt der Unionskanzlerkandidat seinen Kurs: Ja, es könne sein, dass die AfD mit der Union stimme. Aber vor die Wahl gestellt, weiter zuzusehen, wie Menschen ermordet würden oder unangenehme Mehrheiten zu akzeptieren – in einer solchen Lage sei für ihn die Sache klar. „Die Demokratie ist in Gefahr, wenn Radikale an die Macht kommen“, sagt Merz. Und er werde alles dafür tun, das zu verhindern. Scholz‘ Versuch, das in Frage zu stellen, sei „infam und niederträchtig“. Aber: Die Demokratie sei auch in Gefahr, wenn der Wille der Mehrheit dauerhaft ignoriert wird.
Am Ende dieses Tages gibt es ein dreigeteiltes Bild: Entsetzen und Empörung bei SPD, Grünen und Linken, trotzige Ernüchterung bei Merz und seinen Leuten und Triumphszenen bei der AfD. „Das ist wahrlich ein historischer Moment“, sagt Bernd Baumann, parlamentarischer Geschäftsführer der AfD. Er zieht die Verbindung zu Donald Trump, Geert Wilders, Georgia Meloni und Herbert Kickl. „Jetzt und hier beginnt eine neue Epoche“, sagt Baumann, „jetzt beginnt was Neues, und das führen wir an“.
Auch Grünen-Fraktionschefin Britta Haßelmann spricht von einem historischen Tag, „im negativen Sinne“. In diesem Parlament seien zum ersten Mal „Mehrheiten gesucht und billigend in Kauf genommen“ worden jenseits der demokratischen Mitte. „Sie haben das zu verantworten, Sie und Ihre Fraktion“, sagt sie in Richtung von Merz.
Der CDU-Mann versucht zu retten, was zu retten ist: Er bedauere es, dass der Unions-Antrag zur Migration eine Mehrheit mit den Stimmen der AfD bekommen habe, sagt Merz am Abend. Er wiederholt seinen Appell an SPD und Grüne, bei der Abstimmung am Freitag gemeinsam eine Mehrheit in der demokratischen Mitte zu suchen. Die AfD will auch diesem Gesetz zustimmen.
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