Berlin. Kann Donald Trump den Ukraine-Krieg beenden? Wäre es mit Angela Merkel gar nicht erst so weit gekommen? Viktor Orban im Exklusiv-Interview.

Der ungarische Regierungschef Viktor Orban besuchte die FUNKE- Zentralredaktion zum Interview.
Der ungarische Regierungschef Viktor Orban besuchte die FUNKE- Zentralredaktion zum Interview. © FUNKE Foto Services | Reto Klar

Viktor Orban hat gerade sehr viel zu tun. In wenigen Tagen beginnt die ungarische EU-Ratspräsidentschaft, für ein halbes Jahr führt Ungarn dann Regie bei den Beratungen der EU-Mitgliedstaaten. Doch bevor der Ministerpräsident seine Pläne mit Kanzler Olaf Scholz bespricht, besucht er unsere Redaktion – und erklärt, warum er sich Donald Trump zurück an der Macht wünscht. Wieso er an seiner Asylpolitik festhält. Und warum er glaubt, dass es mit Angela Merkel als Kanzlerin jetzt keinen Krieg zwischen der Ukraine und Russland mehr geben würde.

Herr Ministerpräsident, mit der Übernahme der EU-Ratspräsidentschaft werden Sie und Ihr Land einen großen Einfluss auf die Politik der Europäischen Union haben. Was hat Europa von Ihnen zu erwarten?

Viktor Orban: Die wichtigsten Punkte: Wir wollen die Wettbewerbsfähigkeit der europäischen Wirtschaft steigern. Wir sind für die Beendigung des Krieges. Und das Migrationsproblem sollte gelöst werden. Wir wollen uns zudem darum kümmern, dass es bei der EU-Erweiterung Richtung Westbalkan vorangeht.

Was verstehen Sie unter höherer Wettbewerbsfähigkeit – geht es mit Europa wirtschaftlich bergab?

Orban: Der erste Schritt ist, den europäischen Binnenmarkt zu stärken. Die Unternehmen, das Kapital und die Wirtschaft müssen mehr in Entscheidungen eingebunden werden. Die Beschlüsse sind manchmal zu politisch. Der Green Deal ist zum Beispiel ein schönes Projekt. Aber wenn er wie in den vergangenen fünf Jahren gegen die Interessen der Wirtschaft gemanagt wird, wird er zum Fehlschlag. Für uns ist es auch wichtig, den europäischen Markt für Wettbewerb offenzuhalten. Protektionismus wäre weder für Deutschland, noch für Ungarn, noch für die EU gut.

Ungarn hat wiederholt Entscheidungen der EU und der Nato blockiert. Genießen Sie die Rolle des Störenfrieds?

Orban: Wenn ich Ihren Begriff des „Störenfrieds“ nehme, stellt sich doch die Frage: Woher kommen die Probleme? Die Borniertheit in Deutschland – und insbesondere bei der Linken – ist doch, dass niemand einen wie mich mag, der seit Jahrzehnten zu schwierigen Themen seine eigene Meinung hat.

Mein erster Konflikt mit der Linken in Westdeutschland drehte sich um den Fall der Berliner Mauer und den Abzug der Sowjettruppen aus dem früheren Ostblock. Als junger Oppositionspolitiker habe ich 1989 meine Stimme dafür erhoben, dass die Rote Armee aus Zentraleuropa abzieht. Mir ging es nicht um eine Reform des Sozialismus. Nein, was für mich zählte, war Freiheit, nationale Unabhängigkeit, die Loslösung vom „russischen“ Reich, Marktwirtschaft, Bindung an den Westen. Wir haben den Eisernen Vorhang zerstört, und ich habe vorhergesagt, dass das die Mauer in Berlin 1989 zum Einsturz bringt.

Ich wurde von der Linken in Deutschen dafür heftig kritisiert. Oskar Lafontaine sagte, ich sei verrückt. Beim Thema Migration habe ich 2015 gesagt: Leute, ich könnt machen, was ihr wollt, es ist eure nationale Entscheidung. Aber ihr solltet bedenken, dass ihr ein enormes Risiko eingeht, wenn ihr eure Grenzen für illegale Migration öffnet. Neun Jahre danach sollte sich herausstellen, dass ich mit meinen Warnungen Recht behielt. Das Gleiche passiert mit Blick auf den Krieg. Ich bin der Einzige, der für die sofortige Beendigung des Krieges ist. Er ist schlecht für Europa.

Ihr Motto für die EU-Ratspräsidentschaft heißt „Make Europe great again“. Wie viel Donald Trump steckt in Viktor Orban?

Orban: Wenn wir mit den Amerikanern Schritt halten wollen, müssen wir Europäer wieder groß werden. Europa ist ein wundervoller Kontinent. Wir wollen zurückkehren zum prägenden europäischen Einfluss mit Blick auf Geist, Wissenschaft und Wirtschaft. Vielleicht auch mit Blick auf das politische Gewicht auf der Weltbühne, das wir einmal hatten und das uns dann verloren ging.

Der ungarische Ministerpräsident Viktor Orban (links) zu Besuch im Weißen Haus beim damaligen Präsidenten Donald Trump. Er sei „zu 101 Prozent“ von Trump überzeugt, sagt Orban im Interview.
Der ungarische Ministerpräsident Viktor Orban (links) zu Besuch im Weißen Haus beim damaligen Präsidenten Donald Trump. Er sei „zu 101 Prozent“ von Trump überzeugt, sagt Orban im Interview. © picture alliance/AP Photo | Evan Vucci

Wie würden Sie mit einem Präsidenten Donald Trump umgehen?

Orban: Ich bin zu 100 Prozent von Donald Trump überzeugt – nein, zu 101 Prozent. Der erste Grund hierfür: Er war ein Mann des Friedens. Er hat keinen einzigen Krieg begonnen. Im Gegenteil. Er hat mit den „Abraham Accords“ den Nahen Osten stabilisiert. Trump zeigt auch: Die politische Klasse in Europa wird von einer immer schmaleren Basis ausgewählt. Der Stil und die Sprache der Politik auf dem europäischen Kontinent werden zunehmend grau. Wir brauchen Personen, die das System aufschütteln, Einzelgänger, die von außen kommen.

Ein großes Streitthema zwischen den EU-Staaten und Ungarn ist die Migration. Sie nehmen als einziges Land fast keine Asylbewerber auf: Letztes Jahr gab es in Ungarn insgesamt 30 Asylanträge – in Deutschland waren es mehr als 300.000. Wie erklären Sie das den Deutschen, die durch Migration stark belastet sind?

Orban: Wir nehmen Asylbewerber auf, wenn sie den Regeln in Ungarn folgen. Unsere Vorschriften sind in der EU einzigartig. Wir haben sogenannte äußere Hotspots geschaffen – Zentren außerhalb Ungarns, in denen Asylanträge geprüft werden. Wenn Migranten nach Ungarn kommen wollen, müssen sie sich zuerst an eine ungarische Botschaft wenden, zum Beispiel in der serbischen Hauptstadt Belgrad. Dort werden alle Papiere geprüft. Nur, wenn die ungarischen Behörden grünes Licht geben, können Migranten einreisen. Sonst nicht.

Bundeskanzler Olaf Scholz will nun untersuchen, ob die Prüfung von Asylanträgen auch in Drittstaaten außerhalb der EU erfolgen kann. Ist Scholz nun auf der Orban-Spur?

Orban: Für mich ist es nicht beschämend, auf der Spur von Scholz zu sein. Ich fürchte eher, dass er es ist, dem das ungelegen kommt. Ich begrüße jedoch Scholz‘ Position, hier einen Ausweg zu finden.

Zurück zu Ungarn: Warum lehnen wir illegale Migration ab? 2015 überquerten Zehntausende Migranten die ungarische Grenze. Wir konnten sie erst im Herzen von Budapest, im Hauptbahnhof, stoppen. Ich ging höchstpersönlich dorthin, um mir ein Bild zu machen. Mir wurde schnell klar: Das Gesellschaftskonzept, das ich bei den Flüchtlingen wahrgenommen habe, ist zu riskant für die ungarischen Bürger. Es war offensichtlich, dass sie die Idee der Gleichberechtigung der Frauen nicht unterstützen würden. Hinzu kamen die verbreitete Schwulenfeindlichkeit und der Hang zum Antisemitismus. Die Migranten standen für Dinge, die ich als Gefahr für die Ungarn ausgemacht habe.

Der ungarische Regierungschef Viktor Orban während des Interviews in der FUNKE-Zentralredaktion.
Der ungarische Regierungschef Viktor Orban während des Interviews in der FUNKE-Zentralredaktion. © FUNKE Foto Services | Reto Klar

Die damalige Kanzlerin Merkel war anderer Meinung: Sie öffnete die Grenzen für die Migranten.

Orban: Ich verstehe das deutsche Konzept so: Wenn man das kulturelle Muster, das die Migranten vertreten, mit den traditionellen wertebasierten Gemeinschaften in Europa mischt, wird etwas Gutes herauskommen. Ich sage nicht, dass es völlig unmöglich ist. Aber das Risiko ist zu hoch. Ich habe 2015 erklärt: Warten wir mal ab, wie die deutsche oder französische Gesellschaft in 10, 15 oder 20 Jahren aussieht. Sollte sich das als positiv herausstellen, können auch die Ungarn darüber nachdenken.

Brauchen wir eine Obergrenze für die Aufnahme ukrainischer Flüchtlinge?

Orban: In Ungarn gibt es keine Obergrenze. Wir verfolgen einen christlichen Ansatz und sagen: Die Ukrainer sind in Schwierigkeiten. Wir sind die Nächsten, die helfen können. Wenn es jedoch Probleme in Syrien oder anderswo gibt, wären aus unserer Sicht als Erstes die arabischen Länder als Helfer gefragt.    

Die Europawahlen vor zwei Wochen haben gezeigt: Europa rückt politisch nach rechts, auch mit rechtsextremen Kräften. Was bedeutet das für die Zukunft der EU?

Orban: Die vergangenen fünf Jahre waren wahrscheinlich die schlimmsten fünf Jahre in der Geschichte der EU. Die Leistungen der EU-Kommission und der Brüsseler Elite waren schwach. In einer demokratischen nationalen Wahl würde das nicht ausreichen, um weiterzumachen. Die Leute würden sagen: schlechte Regierung, abtreten.

Das Ergebnis der Europawahlen läuft darauf hinaus, dass die Menschen in Brüssel Veränderungen haben wollen. Aber so wie es jetzt aussieht, wird die gleiche regierende Koalition im Amt bleiben. Ich bin nicht glücklich über das, was gerade passiert. Wir haben ein strukturelles Problem. Die größte Mitte-Rechts-Partei, die Europäische Volkspartei (EVP), nimmt die Stimmen der gemäßigten Rechten und geht eine Koalition mit der Linken ein. Das ist die eingebaute Konfliktstruktur der europäischen Parteipolitik.

Ein Grund für Konflikte in der EU ist die Haltung Ungarns im Ukraine-Krieg: Sie liefern keine Waffen, verzögern finanzielle Hilfen. Was ist denn Ihre Idee, um Wladimir Putin zum Einlenken zu bringen, damit es Frieden gibt?

Orban: Das ist nicht meine Aufgabe. Es ist klar, dass der Angriff Russlands völlig inakzeptabel ist, er hat die Grundsätze der internationalen Beziehungen verletzt. Aber mir geht es nicht um die Interessen der Ukraine oder Russlands, ich will vor allem, dass der Krieg beendet wird und es einen Waffenstillstand gibt.

Jeden Tag sterben Europäer auf dem Schlachtfeld. Wir müssen das Töten an der Front stoppen. Da reden wir noch gar nicht über Friedensverhandlungen. Wir müssen Spielraum gewinnen, damit wir einen Weg zum Frieden finden, der für beide Seiten akzeptabel ist und ebenso für Europa. Am Ende geht es ja um eine neue europäische Sicherheitsarchitektur, in der wir friedlich leben können.

Soll die Ukraine dafür auf Gebiete verzichten, wie es Putin als Bedingung für Friedensgespräche fordert?

Orban: Wir wissen gar nicht genau, was die russische Reaktion wäre, wenn die Führung der USA sagen würde: Hört zu, wir stoppen morgen früh das Töten und verhandeln.

Sie glauben wirklich, dann hört der Krieg auf?

Orban: Es wäre eine Chance. Wir wissen nicht, was passieren würde. Wir haben es nie versucht. Das ist noch ein Grund, warum ich für Donald Trump bin. Der US-Präsident ist der einzige Mensch des Universums, der die entscheidenden beiden Anrufe in Kiew und Moskau machen könnte. Ich bin aber auch sicher, dass wir jetzt keinen Krieg hätten, wenn Angela Merkel noch Kanzlerin wäre. Sie hätte das getan, was sie schon nach der russischen Besetzung der Krim getan hat: Den Konflikt isolieren, nicht internationalisieren.

Der ungarische Regierungschef Viktor Orban (ganz links) während des Interviews in der FUNKE- Zentralredaktion.
Der ungarische Regierungschef Viktor Orban (ganz links) während des Interviews in der FUNKE- Zentralredaktion. © FUNKE Foto Services | Reto Klar

Sie haben in Ungarn vor 1989 Ihre eigenen bitteren Erfahrungen mit Moskau gemacht. Wie gefährlich kann dieser Krieg werden, wie gefährlich ist Russland?

Orban: Wir sollten uns keine Illusionen machen: Russland ist anders, sein System und seine Gesellschaft sind nicht europäisch. Unser System basiert auf Freiheit, Russlands System auf militärischer Macht. Aber Russland kann und muss Teil der europäischen Sicherheitsordnung sein. Vorher müssen wir uns entscheiden, was Europas Ziel für den Ukraine-Krieg sein soll. Das sagt niemand offen. Der US-Präsident hat erklärt, Putin müsse scheitern. Geht es wirklich nur darum?

Es geht um Frieden und die Wiederherstellung internationalen Rechts...

Orban: Wir schauen aber nicht als internationaler Richter auf den Konflikt. Wir sind Teil des Konflikts. In diesem Krieg geht es darum, das Recht der Ukraine auf eine Nato-Mitgliedschaft zu sichern – was Russland absolut ablehnt und der Westen absolut unterstützt. Aber wollen wir eine Nato-Flagge auf der Krim? Niemand hat das wirklich geklärt. Stattdessen finanzieren wir den Tod junger Ukrainer, die im Krieg fallen. Wäre die Ukraine allein, gäbe es schon lange einen Waffenstillstand.

Die Ukraine will auch in die EU. Werden Sie die Beitrittsgespräche mit der Ukraine befördern oder bremsen?

Orban: Ungarn ist mit diesem Beitrittsprozess nicht einverstanden, aber wir blockieren ihn nicht und unterstützen den Start der Verhandlungen. Es geht nicht um Ja oder Nein zur EU-Mitgliedschaft. Aber wir müssten erst prüfen, was die Folgen wären, wenn wir ein Land im Krieg aufnehmen, dessen Grenzen in der Praxis nicht geklärt sind. Und was für Folgen hätte der Beitritt des riesigen Landes für die Landwirtschaft der EU? Jetzt beginnen wir Verhandlungen, ohne da Klarheit zu haben, das ist nicht gut. Es ist ein rein politisch motivierter Prozess.

In der EU stehen wichtige Personalentscheidungen bevor. Warum wollen Sie eine zweite Amtszeit von Ursula von der Leyen als Kommissionspräsidentin verhindern?

Orban: Wegen ihrer schwachen Leistung. Die grüne Transformation ist totales Missmanagement, das Migrationspaket löst kein Problem. Europa braucht eine bessere Führung. Es gibt genug talentierte Politiker, die es können. Aber ich nenne keine Namen.

EU-Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen. Viktor Orban möchte eine zweite Amtszeit von der Leyens verhindern – „wegen ihrer schwachen Leistung“, wie er im Interview sagt.
EU-Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen. Viktor Orban möchte eine zweite Amtszeit von der Leyens verhindern – „wegen ihrer schwachen Leistung“, wie er im Interview sagt. © DPA Images | Alessandro Della Valle

Hat die Ablehnung von der Leyens nicht auch mit dem Streit um Rechtsstaatsverstöße zu tun? Ungarn steht in der Kritik wegen Eingriffen in die Unabhängigkeit von Medien und Justiz. Die Kommission hat Milliarden EU-Gelder für Ungarn auf Eis gelegt und eine Justizreform erzwungen…

Orban: Die EU-Kommission hat die ungarische Justiz genau untersucht und hat ihr Okay gegeben: Das Verfahren zur Justiz ist beendet. Was die Medien anbelangt: Es gibt keine Einmischung der Regierung. Wir haben in Ungarn eine größere Meinungsvielfalt der Medien als in Deutschland.

Die renommierte Organisation Reporter ohne Grenzen kommt zu einem anderen Schluss: In Ihrer Regierungszeit wurde die Pressefreiheit eingeschränkt …

Orban: Ich kenne den Bericht, aber er enthält keine Fakten, es handelt sich um eine politische Meinung.

Sehr viele Unternehmen investieren in Ungarn. Was machen Sie besser als wir?

Orban: Ja, wir haben Fabriken deutscher Unternehmen und gleich daneben chinesische oder südkoreanische – und sie kooperieren untereinander bei uns in Ungarn. Eine wichtige Rolle spielt, dass die Steuern bei uns niedrig sind und wir uns als Partner der Unternehmen verstehen, nicht als Gegner.

Was passiert, wenn die deutsche Wirtschaft weiter an Stärke verliert?

Orban: Das wäre nicht Deutschlands alleiniges Problem: Es wäre ein Desaster für ganz Europa.

Sie besuchen Deutschland auch wegen der Fußball-EM: Als die ungarische Mannschaft gegen die deutsche verloren hat, was ging Ihnen durch den Kopf?

Orban: Ich war sehr traurig. Es gibt ein ungeklärtes Problem zwischen uns: 1954.

… als Deutschland das WM-Finale gegen Ungarn gewann...

Orban: (lacht) Das kann nicht so stehen bleiben. Wir müssen die Chance bekommen, uns in einem Finale zu revanchieren und gegen Deutschland zu gewinnen.