Berlin. Der mutmaßliche Täter von Aschaffenburg hätte nicht mehr in Deutschland sein sollen. Der Fall zeigt Parallelen zu einer anderen Gewalttat.
Eigentlich hätte Enamullah O. schon nicht mehr in Deutschland sein dürfen. Wäre alles gelaufen, wie es soll, hätte der 28-Jährige aus Afghanistan schon im Sommer 2023 in einem Flugzeug oder Bus in Richtung Bulgarien gesessen. Wäre alles gelaufen, wie es soll, hätte im Januar 2024 in einem Park in Aschaffenburg eine Kita-Gruppe einen Ausflug machen können und alle wären wohlbehalten zurückgekehrt.
Doch O. ist noch immer in Deutschland. Am Mittwoch wurde er verhaftet und inzwischen in einer Psychiatrie untergebracht, weil er mutmaßlich bei einer Messerattacke in der fränkischen Stadt einen zweijährigen Jungen und einen 41-jährigen Mann getötet hat. Drei weitere Menschen, darunter ein zweijähriges Mädchen, wurden verletzt. Und neben dem Schock und dem Schmerz der Angehörigen dominiert am Tag nach der Tat die Frage, wie das möglich war.
Enamullah O. kam über Bulgarien nach Deutschland. Dort hatten die Grenzbehörden O. bei seiner Einreise in die EU einst registriert, seine Fingerabdrücke genommen und die Daten in die EU-Datenbank Eurodac eingespeist. Nach dem europäischen Asylsystem waren die bulgarischen Behörden damit offiziell verantwortlich für das Asylverfahren des jungen Afghanen.
Mutmaßlicher Täter von Aschaffenburg: Zuständig gewesen wäre Bulgarien
Doch Enamullah O. blieb nicht in Bulgarien, er reiste weiter nach Deutschland. Am 19. November 2022 registriert ihn die Polizei in Hessen, legt eine Akte an. Im März 2023 stellt O. einen Asylantrag. Der Fall geht an das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge (Bamf) – und dort entdecken die Beamten kurz danach den Eurodac-Treffer. Sie wissen jetzt: Enamullah O. muss nach Bulgarien zurück.
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Im Sommer 2023 soll es nach Informationen unserer Redaktion so weit sein. Das Bamf stellt dem Afghanen einen Bescheid zu: Asylantrag abgelehnt. Die Behörde ordnet die „Überstellung“ nach Bulgarien an. Wer damals verantwortlich ist für die Ausreise, ist bisher unklar. Möglicherweise die Ausländerbehörde in Unterfranken, vielleicht auch das Landesamt für Asyl und Rückführungen, das in Bayern Abschiebungen organisiert.
Doch die Frist endet, und Enamullah O. ist noch immer in Deutschland. Das EU-Asylsystem scheitert wieder einmal. Wer mit Vertretern in den Sicherheitsbehörden spricht, hört Vorwürfe an Bulgarien: Dort sage man erst immer zu, man übernehme einen Fall – doch dann würden die Behörden in Sofia absurde Auflagen für die Abschiebungen machen, würden etwa die Fallzahlen für die Flüge maximal niedrig halten oder die Wochentage für die Rücküberstellungen bestimmen.
Die deutschen Behörden hatten sechs Wochen Zeit für eine Abschiebung
Dennoch bleibt hier die Frage: Warum schaffen es die deutschen Behörden im Sommer 2023 nicht, Enamullah O. nach Bulgarien abzuschieben? Sie hatten sechs Wochen Zeit.
Der bayerische Innenminister Joachim Herrmann (CSU) verweist am Donnerstag auf die Bundesebene: Das Bamf habe zwar schon im Juni O. eröffnet, dass sein Antrag abgelehnt wurde. Den Behörden des Freistaats habe man das aber erst am 26. Juli mitgeteilt – und das, obwohl die Frist für die Rückführung am 3. August endete.
Die Frist läuft also ohne Abschiebung ab, O. bleibt in Deutschland. Nun muss das Bamf erneut über den Antrag auf Asyl entscheiden. Im September 2024 soll Enamullah O. zu einer Anhörung zur Außenstelle des Bundesamtes kommen, es geht um die Frage, ob er Schutz in Deutschland bekommt. Doch O. taucht zu dem Termin nicht auf.
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Erst Ende Dezember hört das Bamf wieder von ihm. Er hat der örtlichen Ausländerbehörde offenbar mitgeteilt, er wolle freiwillig zurück nach Afghanistan reisen. Das passiert sehr selten – freiwillig gehen kaum Afghanen zurück ins Taliban-regierte Land. Einen Antrag auf Förderung für seine freiwillige Rückkehr stellt O. offenbar auch nicht. Obwohl das immerhin mehr als 1000 Euro sind, viel Geld in Afghanistan.
Das Bamf entscheidet: Das Asylverfahren zu Enamullah O. wird eingestellt. Einen Tag vor Weihnachten verschicken die Behörden den Bescheid: O. muss das Land verlassen. Welche Frist der Antrag hat, ist unklar. Offen ist auch, ob die örtliche Ausländerbehörde überprüft hat, ob O. tatsächlich seine Reise nach Afghanistan vorbereitet. Es sei allerdings klar gewesen, sagte der bayerische Innenminister, dass O. keine gültigen Papiere zur Ausreise gehabt habe. Die müsse das Generalkonsulat Afghanistans in Frankfurt ausstellen, bisher lägen sie aber nicht vor.
Rückführung möglich, aber nicht durchgeführt: Parallelen zu Solingen
Anzeichen auf ein politisches Motiv gibt es bisher nicht, die Ermittlungsbehörden gehen vor allem dem Verdacht nach, dass eine psychische Erkrankung Hintergrund für die brutale Tat sein könnte. Laut Joachim Herrmann wurde O. nach vorherigen Gewalttaten wiederholt in eine Klinik eingewiesen, wurde dort behandelt und kam anschließend wieder auf freien Fuß. Er hat zudem eine gesetzliche Betreuerin und wird medikamentös behandelt.
Der bayerische Ministerpräsident Markus Söder (CSU) kündigte vor diesem Hintergrund an, das entsprechende Landesgesetz „härten“ zu wollen. Ein „Bild“-Bericht zitiert eine andere Bewohnerin von O.s Gemeinschaftsunterkunft, nach deren Angaben er etwa eine Frau mit einem Messer verletzt haben soll.
O.s Weg durch das europäische und deutsche Asylsystem zeigt auffällige Parallelen zu den Hintergründen einer anderen Attacke: zum Fall von Issa al-H., dem mutmaßlichen Täter von Solingen. Auch al-H. hätte nach den Regeln des europäischen Asylsystems eigentlich schon nicht mehr in Deutschland sein sollen, auch in diesem Fall hatte sich Bulgarien zu einer Rücknahme bereit erklärt. Bei dem Angriff in Solingen waren drei Menschen getötet worden, acht weitere zum Teil schwer verletzt.
Probleme bei der Zusammenarbeit der Behörden: Bayern auf Berlin, Berlin auf Bayern
Beide Fälle leuchten die Schwachstellen des aktuellen Asylsystems, die Probleme bei der Zusammenarbeit der Behörden und der Umsetzung geltenden Rechts grell aus. Und so waren die politischen Einschätzungen in Bayern und Berlin am Tag danach dann auch geprägt vom Versuch, die Verantwortung der jeweils anderen Zuständigkeitsebene zu betonen.
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Der Innenminister Bayerns etwa wies daraufhin, dass nach Ablauf der Rückführungsfrist das Bamf den Fall zwar wieder übernommen hatte, aber keine Entscheidung fällte, bis O. selbst seine Rückkehr ankündigte. Insgesamt hält sich der Mann schon seit zwei Jahren in Deutschland auf. „Die Verantwortung dafür liegt allein beim Bamf“, kritisierte Herrmann.
Bundesinnenministerin Nancy Faeser (SPD) sieht die Verantwortung für die Aufarbeitung dagegen vor allem im Freistaat. Die weitere Aufklärung müsse jetzt schnell zeigen, warum der Täter noch in Deutschland war und „wie mit ihm trotz seiner vorherigen Gewalttaten durch die Polizei und Justiz vor Ort umgegangen wurde“, sagte Faeser in Berlin. Die bayerischen Behörden müssten erklären, warum O. trotz dieser bereits bekannten Delikte noch auf freiem Fuß gewesen sei. „Offenbar sind in Bayern dort auch einige Dinge schiefgelaufen.“ Die Kritik aus Bayern findet sie „befremdlich“.
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