Berlin. BKA-Präsident Holger Münch im Gespräch über die Ursachen der gestiegenen Gewalt, das Waffenrecht und neue Maschen der Cyberkriminellen.

  • In Aschaffenburg hat ein 28-Jähriger zwei Menschen mit einem Messer getötet
  • Was hilft gegen Gewalttaten, bei denen Messer zum Einsatz kommen?
  • Lesen Sie im Interview, was der BKA-Präsident Münch dazu sagt

Über viele Jahre war die Richtung klar: Die Straftaten und die Gewalt gingen in Deutschland zurück. Doch nun zeigt sich ein leichter Anstieg im Vergleich zu den Vorjahren. Bisher sind die genauen Ursachen unklar, doch BKA-Präsident Holger Münch sieht zwei mögliche Gründe: die gestiegene Zuwanderung und die Folgen der Pandemie. Vor Alarmismus warnt Münch jedoch deutlich.

Der Messerangriff im Regionalzug in Brokstedt, das Attentat auf die Zeugen Jehovas in Hamburg, die jungen Täterinnen in Freudenberg – wird Deutschland gewalttätiger?

Holger Münch: Das waren dramatische Ereignisse, die aber absolute Ausnahmen bleiben. Allerdings sehen wir in der Polizeilichen Kriminalstatistik von 2022 eine Zunahme von Gewaltdelikten wie Raub und Körperverletzung. Diese sind im Vergleich zu 2021 um fast 20 Prozent und zum Vor-Corona-Jahr 2019, also dem Jahr ohne Einschränkungen des öffentlichen und gesellschaftlichen Lebens, um knapp neun Prozent angestiegen. Auch bei Kindern und Jugendlichen hat die Zahl der Tatverdächtigen zugenommen – überwiegend begehen diese Eigentumskriminalität wie Ladendiebstahl, Sachbeschädigungen, Beleidigungen oder leichte Körperverletzungen. Aber auch Gewaltdelikte, die über viele Jahre rückläufig waren, sind gestiegen.

Was sind die Gründe dafür?

Münch: Bei Jugendlichen wissen wir beispielsweise, dass diese Altersgruppe seit jeher „die meisten Straftaten pro Kopf“ begeht – also besonders gefährdet ist, delinquent zu werden. Das Risiko kann durch zusätzliche Faktoren gesteigert werden – etwa bei Gewalterfahrungen in der Kindheit, räumlich beengte Lebensverhältnisse oder Stressbelastung in der Familie. Solche Risikofaktoren haben in den vergangenen Jahren fraglos zugenommen durch Krisen wie die Pandemie, den Krieg in der Ukraine und die Inflation. Zudem sind gerade in den letzten Jahren viele junge Menschen zugewandert, die teilweise in ihrer Heimat oder auf der Flucht Gewalt erlebt haben und traumatisiert sind. Die Nettozuwanderung war noch nie so hoch wie 2022. Das sehen wir jetzt auch in der Kriminalstatistik. So zählten wir im letzten Jahr zum Beispiel 3.728 tatverdächtige Minderjährige aus der Ukraine, im Vorjahr waren es nur 349. Solche Entwicklungen sehen wir auch bei anderen Herkunftsländern mit starker Zuwanderung. Ähnliche Anstiege hatten wir auch 2015/2016, die sich nach wenigen Jahren wieder auf das vorherige Niveau normalisierten, was auch aktuell eher wahrscheinlich ist. Diese auffällige Entwicklung ist also nicht alarmierend, muss aber beobachtet werden.

Sind Gewalttaten auch brutaler geworden?

Münch: Wir sehen eher das Gegenteil. Tötungsdelikte und Morde passieren seltener. Und auf lange Sicht gesehen, betrachten wir etwa die letzten 15 Jahre, leben wir heute in einer Gesellschaft, in der es weniger Gewalt gibt. Das ist eine gute Entwicklung, trotz der schlimmen Verbrechen wie in Brokstedt oder Freudenberg.

Nach dem Mord an einem Mädchen durch zwei andere Kinder – wie sinnvoll ist eine Herabsenkung der Strafmündigkeit?

Münch: Ich kann nachvollziehen, dass Menschen nach einer so brutalen Tat wie in Freudenberg ein Gefühl der Ungerechtigkeit haben, wenn die Mädchen für den Mord nicht bestraft werden können. Natürlich muss eine solche Tat Konsequenzen haben – aber nicht unbedingt eine durch ein Gericht ausgesprochene Strafe.

Was hilft stattdessen?

Münch: Junge Menschen haben ein Recht auf Gewaltfreiheit. Sie brauchen lebenswerte Bedingungen, ein Umfeld, in dem Jugendliche Sportvereine und Freizeitangebote vorfinden. Und sie brauchen eine realistische Chance, in dieser Gesellschaft Fuß zu fassen. In der Schule, im Job, in der Nachbarschaft. All das verhindert Kriminalität. Polizeilich müssen wir uns auf sogenannte Intensivtäter konzentrieren, die immer wieder straffällig werden. Auch hier braucht es Angebote als Auswege aus kriminellen Karrieren. Auf Taten der Intensivtäter müssen aber auch schnellere Strafen folgen.

Vorstellung der Polizeilichen Kriminalstatistik: Berlins Innensenatorin Iris Spranger (SPD, l-r), Holger Münch, Präsident des Bundeskriminalamtes, und Bundesinnenminsterin Nancy Faeser (SPD).
Vorstellung der Polizeilichen Kriminalstatistik: Berlins Innensenatorin Iris Spranger (SPD, l-r), Holger Münch, Präsident des Bundeskriminalamtes, und Bundesinnenminsterin Nancy Faeser (SPD). © dpa | Paul Zinken

Immer häufiger ist die Tatwaffe ein Messer. Wie gefährlich ist das?

Münch: Bei rund einem halben Prozent der Gewaltdelikte kommt eine Schusswaffe zum Einsatz, also sehr selten. Messer sind bei gefährlichen und schweren Körperverletzungen aktuell in 5,6 Prozent der Fälle Tatwaffe, bei Raubdelikten in elf Prozent der Fälle. Aus Polizeisicht geht vom Messer ein erhebliches Risiko aus. Ein Messer kann bei Angriffen schwere und auch tödliche Verletzungen herbeiführen, und ist zugleich einfach verfügbar, in der Küche, im Supermarkt. Man kann als Staat also nicht jedes Messer verbieten, aber viele Städte richten Waffenverbotszonen in kritischen Bereichen ein, in denen die Polizei offensiv kontrollieren kann. Dieser Ansatz der Verbotszonen in Innenstädten oder an Bahnhöfen ist durchaus sinnvoll.

Braucht Deutschland ein schärferes Waffenrecht?

Münch: Das derzeitige Waffenrecht enthält bereits zahlreiche Regelungen, die den Umgang mit Schusswaffen einschränken. So muss jede Privatperson, die eine Waffe erwerben möchte, unter anderem ein entsprechendes Bedürfnis nachweisen. Beispiele in der jüngeren Vergangenheit haben aber gezeigt, dass bereits der Einsatz einer einzelnen Waffe viele Opfer zur Folge haben kann. Daher halte ich weitere sinnvolle Beschränkungen für begrüßenswert. Unabhängig davon richten die nationalen und internationalen Strafverfolgungsbehörden aktuell einen Fokus darauf, die Verfügbarkeit von illegalen Waffen einzuschränken.

Einsatz in der digitalen Welt – und in der analogen: wie hier, bei einer Razzia der Polizei in Gladbeck.
Einsatz in der digitalen Welt – und in der analogen: wie hier, bei einer Razzia der Polizei in Gladbeck. © FUNKE Foto Services | Oliver Mengedoht

Zehntausende Menschen sind Opfer von Cybercrime, viele gehen schon gar nicht mehr zur Polizei und erstatten Anzeige. Sind die Sicherheitsbehörden überfordert?

Münch: Nein, wir sind nicht überfordert. Aber wir sind gefordert, Schritt zu halten mit den Kriminellen. In der Cyberwelt wandeln sich die Täter-Strategien rasant, dort endet Kriminalität nicht an der nationalen Grenze. Das bedeutet einen enormen Mehraufwand für die Polizei. Nur ein Beispiel: Wir haben im vergangenen Jahr mehr als 136.000 digitale Hinweise zu Darstellungen von sexuellem Missbrauch von Kindern und Jugendlichen aus den USA erhalten, von denen 90.000 strafrechtlich relevant waren und bearbeitet werden müssen – denn hinter jedem dieser Hinweise könnte ein realer, auch noch andauernder Missbrauch stecken. Das System Polizei und auch die Justiz erleben einen echten Stresstest.

Und Betroffene von Cybercrime treffen auf überforderte Polizei-Dienststellen vor Ort.

Münch: Die Ermittler in Bund und Ländern brauchen gemeinsame Datenplattformen, um Informationen schnell und gezielt auszutauschen, etwa zu Tätergruppierungen, die gerade im Netz aktiv sind, oder zu neuen Betrugsmaschen – wir stellen solche Lösungen als Zentralstelle für die deutsche Polizei zur Verfügung. Auch bei der Auswertung von digitalen Beweismitteln spielen technische Tools heute eine wichtige Rolle. Wir nutzen diese beispielsweise um große Datenmengen, Videos, Fotos und Chat-Nachrichten krimineller Netzwerke zu analysieren und um Informationen zu erhalten, welche Täter miteinander kommunizieren – und in welcher Sprache. Die Software filtert aus riesigen Datenmengen mögliche Tatwaffen heraus oder weist auf potenzielle Absprachen zwischen Gruppierungen hin. Ohne diese digitalen Werkzeuge geht es nicht mehr bei der Polizei. Die Beamten können nicht mehr alle Beweismittel manuell auswerten.

Cyberkriminelle wandeln ihre Strategien schnell. Die Opfer ihrer Straftaten sind nicht nur Ältere.
Cyberkriminelle wandeln ihre Strategien schnell. Die Opfer ihrer Straftaten sind nicht nur Ältere. © dpa | Nicolas Armer

Welche gefährlichen Trends zeigen sich im Online-Betrug?

Münch: Ein verbreitetes Phänomen ist derzeit etwa der Messenger-Betrug. Das betrifft nicht nur ältere Menschen, sondern auch jüngere. Hier erhalten die Betroffenen von einer unbekannten Nummer eine Chat-Nachricht von einem vermeintlich vertrauten Absender mit dem Hinweis: „Mein altes Handy ist kaputt, dies ist meine neue Handynummer, lösche die alte und speichere die bitte ab.“ Doch dahinter steckt ein Krimineller. Der verwickelt Sie in eine Kommunikation, baut Vertrauen auf. Und irgendwann kommt die Nachricht, man müsse dringend Rechnungen bezahlen, aber das eigene Online-Banking funktioniere aufgrund des neuen Handys noch nicht. Das Ziel: eine Überweisung an die Täter. Kriminelle verschicken diese Betrugs-Nachrichten massenhaft. Allein in den ersten acht Monaten des vergangenen Jahres registrierte die Polizei 40.000 dieser Messenger-Betrugsfälle, mit einem Schaden von insgesamt 22 Millionen Euro. Die Täter waren in 30 Prozent der Fälle erfolgreich.