Pokrowsk. In der Frontstadt trennen Ukrainer und Russen noch acht Kilometer. Ein junger Kompanie-Chef warnt vor einer dramatischen Entwicklung.
Eine Drohne klinkt eine Granate aus, sie explodiert neben einem russischen Soldaten. Der Mann, offensichtlich verletzt, greift nach seinem Sturmgewehr, richtet den Lauf gegen seinen Kopf, drückt ab. Der Kommandeur zeigt die Aufnahme auf seinem Mobiltelefon emotionslos. Es ist die grausige Realität des Krieges. Ein Feind stirbt, es ist ein Mann weniger, der seine Heimat bedroht. Wiacheslaw Schewtschuk kommandiert eine Drohnenkompanie der 68. Jägerbrigade. Die Brigade ist seit Ende März im Südosten der Ukraine eingesetzt, wo seit Monaten die heftigsten Kämpfe im Land toben und die Russen erhebliche Geländegewinne machen. Eines der wichtigsten Ziele des russischen Militärs: die Stadt Pokrowsk. „Die Situation ist hart“, sagt der Kompaniechef. Tatsächlich ist sie dramatisch.
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Wir treffen Schewtschuk, 30, in der Kommandozentrale seiner Kompanie in einem Dorf einige Kilometer entfernt von Pokrowsk. Der Ort muss geheim bleiben. Sturmgewehre lehnen an den Wänden, Kisten stapeln sich in den Regalen, auf Tischen stehen Monitore, auf denen Live-Bilder der Operationen laufen. Graue Felder voller Krater, Waldabschnitte, auf die Granaten fallen. Ein kleiner Corgi wuselt durch die Räume. Shershen, übersetzt „Hornisse“, das Maskottchen der Einheit.
Ukraine-Krieg: Moskaus Kriegsmaschinerie walzt sich unerbittlich weiter vor
Schewtschuk sitzt auf einem Sofa, schaut immer wieder auf sein Tablet, auf dem in Echtzeit die Truppenbewegungen und Drohnenflüge zu sehen sind. Er zeigt ein zweites Video, das er gerade erst erhalten hat. Ein zerstörtes Haus, aus dem Rauch aufsteigt und Flammen schlagen. „Sie haben eine unserer Positionen mit einer Artilleriegranate getroffen. Zum Glück ist dabei niemand gestorben.“
Die Drohnenpiloten der Einheit sind bei den Russen verhasst. Sie fügen den Angreifern hohe Verluste zu. „Kürzlich hat einer meiner Männer an einem Tag 47 Feinde getötet“, berichtet der Offizier. Mehr als 5000 russische Soldaten sollen ihren Angriffen bisher zum Opfer gefallen sein. Klar ist: Bei der Offensive im Südosten der Region Donezk nehmen die russischen Militärs wie zuvor in den Schlachten um Awdijwka oder Bachmut den Tod Tausender ihrer eigenen Soldaten in Kauf. Aber die Kriegsmaschinerie Moskaus walzt sich trotz der Verluste unerbittlich Kilometer für Kilometer vor.
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Pokrowsk liegt am nördlichen Ende des etwa 100 Kilometer langen Frontabschnitts in der Region Donezk, an dem die russischen Streitkräfte in diesem Jahr mit besonders starken Kräften angreifen und wo sie Geländegewinne in einer Größenordnung von mehreren hundert Quadratkilometern erzielen konnten. Anfang Oktober fiel mit Wuhledar am südlichen Ende dieses Abschnitts eine Festungsstadt, gegen die die Russen mehr als zwei Jahre angestürmt waren.
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Ukraine: In der Kleinstadt Kurachowe toben Häuserkämpfe
Die Kleinstadt Welyka Nowosilka, im vergangenen Jahr während der ukrainischen Gegenoffensive ein wichtiger Militärstützpunkt, steht kurz vor der Einkreisung durch russische Truppen. Im weiter nördlich gelegenen Kurachowe toben Häuserkämpfe im Stadtzentrum. Das 20 Kilometer südlich von Pokrowsk gelegene Selydowe fiel Ende Oktober nahezu kampflos an die russischen Angreifer.
Von Pokrowsk selbst stehen die Russen nur noch etwa acht Kilometer entfernt. Es ist eine brenzlige Situation für die Verteidiger. „Wenn sich nichts verändert, werden die Russen erfolgreich sein“, warnt Schewtschuk. Der junge Kompanie-Chef klagt wie andere Militärs in der Region über einen Mangel an Soldaten und Munition. „Wenn wir russische Truppenansammlungen sehen oder Hauptquartiere lokalisieren, können wir sie häufig nicht zerstören.“
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Im ukrainischen Militär mehren sich aber Stimmen, die den eigenen Generälen Unvermögen vorwerfen. So kritisierten kürzlich mit Denys Prokopenko und Andreiy Biletsky zwei angesehene Brigade-Kommandeure öffentlich das für den Südosten zuständige operativen Kommando Ost, das Probleme habe, Einheiten effektiv einzusetzen. Hinter vorgehaltener Hand kritisieren auch Front-Offiziere die militärische Führung. Manche zweifeln am Sinn der Kursk-Operation in Russland, die derzeit viele ukrainische Elite-Einheiten bindet, die im Südosten dringend gebraucht würden.
Zudem scheint es Kommunikations-Probleme zu geben. Mancherorts, so heißt es, hätten Befehlshaber aus Angst vor Konsequenzen nicht oder zu spät gemeldet, wenn ihre Einheiten Positionen räumen mussten. In die Lücken konnten russische Trupps vorstoßen, die dann überraschend die Flanken der Ukrainer attackieren konnten. Die Kritik scheint in Kiew anzukommen.
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Pokrowsk ist strategisch wichtig – langsam entwickelt es sich zur Geisterstadt
Am Tag unseres Besuchs in Pokrowsk feuert Präsident Selenskyj nach nur neun Monaten den bisherigen Chef der Landstreitkräfte. Sein Nachfolger Generalmayor Mychajlo Drabatyi ist einer aus der jüngeren Generation ukrainischer Offiziere, die nicht in der Sowjetunion ausgebildet wurden. Drabatyi hatte im Raum Charkiw die im Mai begonnene russische Offensive stoppen können. Der ukrainische Generalstab hat die Entsendung zusätzlicher Einheiten angekündigt.
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Bevor wir nach Pokrowsk aufbrechen, warnt Kompaniechef Schewtschuk eindringlich vor den russischen Kamikaze-Drohnen, die in der Stadt immer wieder Jagd nicht nur auf Militärs, sondern auch auf Zivilisten machen würden. Zum Glück ist es an diesem Tag sehr bewölkt. Erschwerte Bedingungen für die Drohnen-Piloten. Gutes Wetter für die Infanterie. „Viel Glück“, sagt er.
Pokrowsk ist eine graue Industriestadt. Breite Straßen, in die Jahre gekommene Wohnblocks. Die Stadt, in der einmal etwa 50.000 Menschen lebten, ist strategisch wichtig. In der Nähe liegt eine der größten Kohleminen der Ukraine. Die Bergleute arbeiten trotz des Krieges noch immer. Kohle ist wichtig für die Stahlproduktion. Hinter der Stadt beginnt flaches Land, die Verteidigungslinien sind dünn.
Wir waren schon mehrmals in Pokrowsk. Oft haben wir in einer Pizzeria namens „Corleone“ gegessen. Im August vergangenen Jahres traf eine russische Rakete das Gebäude, die Besitzer eröffneten das Restaurant an anderer Stelle. Jetzt ist die Pizzeria geschlossen. Auch die kleine Absteige, in der wir öfter übernachteten, ist nach einem Raketeneinschlag schon länger dicht. Der große Supermarkt an der „Straße der Verteidiger“ ist nicht mehr geöffnet. Pokrowsk entwickelt sich langsam zu einer Geisterstadt.
Solange es Strom gibt und die Kunden kommen, will die Friseurin bleiben
Noch sind aber einige Menschen in der Stadt, trotz des lauten und intensiven Geschützfeuers. Einige Geschäfte und Cafés sind noch geöffnet, am Straßenrand verkaufen ältere Händler eingelegtes Gemüse und Obst. Vor einem Wohnblock mit verbretterten Fenstern und einer von Schrapnellen vernarbten Fassade packen Vlad und seine Freundin hastig Konserven in ihren alten Lada. „Wir sind vor drei Monaten raus aus der Stadt, jetzt holen wir noch Sachen, die wir zurückgelassen haben.“ Vlad ist optimistisch, dass sie zurückkehren können. „Die Russen werden Pokrowsk nicht erobern.“
Sollten die Russen kommen, wird Iryna gehen. Ihre Habseligkeiten hat sie bereits gepackt. Jetzt hat sie aber noch viel zu tun, erzählt die Friseurin. Sie steht in ihrem kleinen Salon im Erdgeschoss eines Wohnblocks, der Spielplatz gegenüber ist verwaist und von Unkraut überwuchert. „Kinder gibt es hier fast keine mehr, meine Kunden sind vor allem Soldaten und die Minenarbeiter.“ Solange es Strom gebe und sie Kundschaft habe, wolle sie bleiben.
Manche Menschen in Pokrowosk, sagen Militärs, blieben, weil sie auf die Russen warteten. Eine alte Dame redet sich in Rage. Sie wirft der ukrainischen Regierung vor, den Konflikt mit Russland provoziert zu haben und den westlichen Verbündeten Kiews, dass sie mit ihren Waffenlieferungen den Krieg befeuerten. Ihr Sohn sei eingezogen worden und gelte als vermisst. „Das Ende der Welt wird bald kommen“, schreit sie. „Sie müssen nur die Bibel lesen.“