Moskau. Russland hat eine neue Nukleardoktrin verabschiedet. Sie ist eine Antwort auf die US-Raketenlieferung an die Ukraine – mit Folgen.

Nur eine weitere Drohung oder doch sehr ernst gemeint? Russlands Präsident Wladimir Putin hat ein Dekret für eine neue, aktualisierte Nukleardoktrin des Landes unterschrieben. Darin heißt es: Atomwaffen könnten eingesetzt werden bei einer „Aggression gegen die Russische Föderation und (oder) ihre Verbündeten durch einen nichtnuklearen Staat unter Beteiligung oder Unterstützung eines nuklearen Staates.“ Das würde als „gemeinsamer Angriff“ verstanden werden.

Mögliches Szenario: Die Ukraine greift Russland an, mit weitreichenden Waffen der Atommacht USA. Zum Beispiel mit ATACMS-Raketen, jüngst abgefeuert auf die russische Grenzregion Brjansk. Fünf dieser Raketen konnte die Luftabwehr abschießen, eine sei beschädigt worden, so das Verteidigungsministerium in Moskau.

Wie im Kalten Krieg geht es wieder um Abschreckung

Im Kern geht es in der Nukleardoktrin um atomare Abschreckung. Zu Zeiten des Kalten Krieges hieß das: Starten etwa die USA einen Atomangriff auf Russland, dann wäre der Gegenschlag unausweichlich. Durch die Drohung mit der vollständigen Vernichtung war das Atomgespenst gebannt. Die neue Doktrin allerdings geht weiter. Nukleare Abschreckung würde auch gegenüber Staaten ausgeübt, „die Ressourcen unter ihrer Kontrolle zur Vorbereitung und Durchführung einer Aggression gegen die Russische Föderation zur Verfügung stellen.“

Obwohl die neue Doktrin wohl schon vor einigen Monaten geschrieben wurde, gemünzt ist sie auch auf die Zusage von US-Präsident Joe Biden, der Ukraine den Einsatz von ATACMS-Raketen zu erlauben, die mit einer Reichweite von rund 300 Kilometern ins russische Hinterland reichen. Zuvor durfte die Ukraine nur Himars-Raketenartillerie aus den USA gegen Ziele dicht hinter der russischen Grenze einsetzen. Bidens jetzige Entscheidung ist nicht nur im Lager seines Nachfolgers Donald Trump auf Kritik gestoßen.

Außeminister Lawrow droht unverhohlen – und lobt Deutschland

Von einer Eskalation des Konflikts durch den Westen spricht der russische Außenminister Sergej Lawrow.  „Diese hochtechnologischen Raketen können ohne die Amerikaner nicht eingesetzt werden“, sagte Lawrow nach dem G20-Gipfel vor Journalisten in Rio de Janeiro. Er hoffe, dass die neue nukleare Doktrin Russlands aufmerksam zur Kenntnis genommen worden sei.

„Wir werden dies als eine neue Phase des westlichen Krieges gegen Russland betrachten und entsprechend reagieren“, drohte Russlands Außenminister. Gefragt, ob Russland eine nukleare Antwort auf den Angriff in Brjansk erwäge, sagte Lawrow aber auch: „Wir sind entschlossen, alles zu tun, um einen Atomkrieg zu verhindern.“ Der EU-Außenbeauftragte Josep Borrell nannte Lawrows Drohung „unverantwortlich“. Die EU verurteile jede Drohung mit Atomwaffen, so Borrell nach einem Verteidigungsministertreffen in Brüssel.

Kolumbianischer Außenminister zu Besuch in Russland
Russlands Außenminister Sergej Lawrow. © DPA Images | Alexander Zemlianichenko

FDP will Antrag zu Taurus-Debatte einbringen

Gute Noten von Russlands Außenminister dagegen für Deutschland: Die Entscheidung, keine Langstreckenwaffen an die Ukraine zu liefern, sei „eine verantwortungsvolle Haltung“. Doch die eigentlich erledigte deutsche Taurus-Debatte kommt wieder in Fahrt.

Die Fraktion der FDP will einen entsprechenden Antrag in den Deutschen Bundestag einbringen. „Angesichts der US-Freigabe für ATACMS brauchen wir auch im Bundestag eine Debatte um die Lieferung für Taurus“, sagt Marcus Faber, der FDP-Verteidigungsexperte und Vorsitzende des Verteidigungsausschusses. „Argumente für eine Verweigerung gibt es keine mehr.“ Taurus für die Ukraine?  Bundeskanzler Olaf Scholz (SPD), der letztendlich darüber entscheidet, ist dagegen – FDP, Grüne und Union wollen liefern.

Mit weitreichenden Raketen westlicher Bauart will die Ukraine Flugplätze, militärische Logistikzentren und Produktionsstätten tief in Russland angreifen, um die Attacken vor allem auf die Energie- und Wasserversorgung des Landes frühzeitig abzuwehren. Aus US-Kreisen heißt es, dass Bidens Freigabe aber nur für die von der Ukraine besetzten Gebiete in der russischen Region Kursk gelte. Auch hier geraten die ukrainischen Streitkräfte zunehmend unter Druck.

Bidens Entscheidung sei auch als Antwort auf den Einsatz von nordkoreanischen Soldaten in Kursk zu sehen, vermuten Experten. Die Einmischung Nordkoreas sieht der Westen als neue Eskalation. Am Rande des G20-Gipfels hat Bundeskanzler Olaf Scholz den chinesischen Präsidenten Xi Jinping in einem 30-minütigen Gespräch vor einer Ausweitung des Kriegs in der Ukraine gewarnt.

Militärexperte: Bereitschaft Russlands, Atomwaffen einzusetzen, wird „ständig überschätzt“

Dass Russland allerdings tatsächlich seine Atomwaffen zünden wird, das glauben Fachleute wie der Militärexperte Gustav Gressel nicht. Die Bereitschaft des Kremls, Atomwaffen einzusetzen, werde „ständig überschätzt“, meint er. Die größere Gefahr für die Sicherheit der Welt sieht er in der Unentschlossenheit des Westens. Anderen Staaten gebe diese den Anreiz, sich auch Atomwaffen zuzulegen. Sie hätten nämlich gesehen, dass eine Nichtatommacht nicht geschützt werde. Auch der ukrainische Präsident Wolodymyr Selenskyj hatte schon mit der Beschaffung eigener Atomwaffen gedroht – diese Aussage allerdings später relativiert.

Die neue Nukleardoktrin Russlands – mehr als eine neuerliche Drohung? Eher nicht. Auch in der neuen Doktrin wäre die Vorbedingung für einen Nuklearschlag Angriffe auf die Russische Föderation, „die eine kritische Bedrohung für ihre Souveränität und (oder) territoriale Integrität darstellen.“ Durch ukrainische Angriffe mit US-ATACMS ist das sicherlich nicht gegeben. Aber die Drohung bleibt.