Kiew/Berlin. In Sudscha bebt die Erde unter russischem Artilleriefeuer, in Moskau brennt ein Kraftwerk – und Selenskyj wartet auf grünes Licht.

Mehr als drei Wochen sind vergangen, seitdem die ukrainische Armee ihre Überraschungsoffensive in der russischen Region Kursk startete. Zwar verlangsamt sich das Tempo, mit dem Kiews Streitkräfte vorrücken, doch der Angriff bleibt für Moskau ein großes Problem.

Zuletzt sprach der ukrainische Befehlshaber Oleksandr Syrskyj von der Kontrolle über 100 russische Ortschaften – ein massiver Gesichtsverlust für Russlands Militärführung, die bislang nicht in der Lage ist, die militärische Hoheit auf eigenem Gebiet wiederherzustellen. Und nun könnte die Situation in der Region noch explosiver werden.

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Erst in der Nacht zu Sonntag musste Russland nach eigenen Angaben einen massiven ukrainischen Drohnenangriff abwehren. Das Verteidigungsministerium teilte auf Telegram mit, insgesamt 158 Drohnen seien über 15 russischen Regionen (insbesondere im Grenzgebiet zur Ukraine) abgefangen worden – zwei von ihnen über der Hauptstadt Moskau.

Dort sollen ein Kohlekraftwerk und eine Ölraffinerie getroffen worden sein. Man hole den Krieg zurück nach Russland, hatte der ukrainische Präsident Wolodymyr Selenskyj erklärt. Doch was in Kursk passiert, reicht ihm noch nicht.

Nach den jüngsten russischen Luftangriffen gegen ukrainische Städte appellierte Selenskyj erneut an den Westen, die gelieferten Waffen auch für Angriffe weit im russischen Hinterland nutzen zu dürfen – insbesondere, um Militärflugplätze anzugreifen, von denen aus zuletzt Kampfjets zur Bombardierung von Städten wie zuletzt Charkiw abgehoben sind.

Allein dort waren durch den jüngsten russischen Luftangriff sechs Menschen gestorben, weitere 99 Menschen wurden verletzt.

Kursk-Offensive ermöglichte blitzschnellen Gefangenenaustausch

Ukrainische Medien berichten, dass eine Delegation bereits Gespräche mit den Verantwortlichen in Washington führe, welche potenzielle Ziele infrage kommen. „Die Säuberung des ukrainischen Luftraums von russischen Lenkbomben ist ein wichtiger Schritt, um Russland zu zwingen, ein Ende des Krieges und einen gerechten Frieden anzustreben“, erklärte Selenskyj in einer Videoansprache. Mit seinem Vorgehen verfolgt der ukrainische Präsident neben der Verbesserung der ukrainischen Verhandlungspositionen aber noch ein weiteres Ziel.

Für Kiew ist es wichtig, die eigenen Soldaten zurückzuholen. Und in Kursk konnten von den Ukrainern bislang etwa 600 russsiche Soldaten gefangen genommen werden. Sie könnten eingetauscht werden gegen etwa 2000 Verteidiger von Mariupol, die sich noch in russischer Gefangenschaft befinden.

Einen ersten Erfolg hat Kiew auf diese Weise bereits erzielt: Die Kursker Offensive führte jüngst zu einem blitzschnell ausverhandelten Gefangenenaustausch, bei dem 115 ukrainische Soldaten frei kamen. Dennoch hat die Ukraine nicht vor, international anerkanntes russisches Gebiet langfristig zu annektieren. Was in Kursk geschehe, sei legitime Verteidigung, argumentiert die Regierung in Kiew.

Die Ukraine versucht, für die Sicherheit der ukrainischen Regionen im Grenzgebiet eine „Pufferzone“ zu schaffen. In der russischen Stadt Sudscha errichteten die Streitkräfte eine erste ukrainische Militärkommandantur – mit einem kleinen Detail, das getrost als Ironie der Geschichte gewertet werden darf.

Innenminister: „Die Ukraine ist ein verantwortungsbewusster Staat“

Denn der neue ukrainische Militärgouverneur von Kursk ist ausgerechnet General Eduard Moskaljow. „Moskal“ wird in der Ukraine, aber auch in Polen umgangssprachlich als abwertender Begriff für Russe genutzt. Laut ukrainischem Innenministerium wurde die Kommandantur geschaffen, weil das in „internationalen Konventionen“ so festgelegt sei.

„Es geht hier nicht darum, nach außen gut zu wirken“, sagte Innenminister Ihor Klymenko er der Nachrichtenagentur Ukrinform. „Wir zeigen, dass die Ukraine ein verantwortungsbewusster Staat ist, der sich an die unterzeichneten Konventionen hält.“

Verbliebene Einwohner in Sudscha verstecken sich in einem Keller.
Verbliebene Einwohner in Sudscha verstecken sich in einem Keller. © DPA Images | Uncredited

Primäre Aufgabe der Kommandantur ist es, die vergleichsweise wenigen verbliebenen Lokalbewohner mit Medikamenten und Lebensmitteln zu versorgen. Aus dem Bildungsministerium ist zudem zu hören, dass die Ukraine erwägt, Bildungsmöglichkeiten für russische Schulkinder in der Region Kursk bereitzustellen. Ebenfalls zeigt sich die Ukraine bereit, einen humanitären Korridor für Kursk-Bewohner zu schaffen – in diesem Fall solle aber nicht die Ukraine, sondern Russland einen Antrag stellen.

Russische Armee macht eigene Stadt Sudscha dem Erdboden gleich

Schon seit Mitte August existiert eine Hotline für Kursker Bewohner, die sich in die Ukraine evakuieren lassen wollen. Ob und wie viele Menschen davon bislang Gebrauch gemacht haben, ist unklar.

In der ukrainischen Öffentlichkeit sorgen solche Angebote nach den Traumata, die durch die barbarische Besatzung von Städten wie Butscha entstanden sind, für Kritik – auch wenn im Kursker Grenzgebiet viele ethnische Ukrainer leben, die eine dem Ukrainischen ähnliche Sprache sprechen.

Während Kiew der Welt – anders als Russland während seiner Besatzungen – ein zivilisiertes Gesicht zeigen will, geht Moskau auch auf eigenem Gebiet unbarmherzig vor. In Sudscha habe das russische Militär massive Artillerieüberfälle verübt, melden ukrainische Medien. Man zerstöre systematisch die eigene Stadt, in der noch rund 200 der ursprünglich 5.000 Bewohner lebten. Die Agentur Unian schrieb: „Auch wenn Sudscha bereits im Hinterland der Front liegt, wird die Stadt von den Russen dem Erdboden gleichgemacht.“