Washington/San Francisco. Der Biograf Dan Morain hat Kamala Harris seit ihren Anfängen in der Justiz Kaliforniens beobachtet. Sein Urteil über sie verblüfft.
Es gibt wenige Menschen, die Kamala Harris so intensiv beobachtet haben wie Dan Morain. Der Journalist war 27 Jahre lang Redakteur bei der „Los Angeles Times“ und acht Jahre bei der kalifornischen Hauptstadt-Zeitung „Sacramento Bee“ tätig. In seiner vor vier Jahren erschienen Biografie über Harris – „Kamala’s Way – An American Life“ – beschreibt er die Anfänge der demokratischen Präsidentschaftskandidatin, die sich in Kalifornien politisierte und beruflich aufstieg. Ein Gespräch kurz vor der Wahl:
Herr Morain, wird Kamala Harris die Wahl am Dienstag gewinnen?
Dan Morain: Ich habe keine Ahnung. Das Rennen ist zu eng. An manchen Tagen denke ich, Kamala Harris wird gewinnen. An anderen Tagen tendiere ich zu einem Trump-Sieg. Ich weiß es einfach nicht.
Wird das Ergebnis zügig kommen?
Morain: Ich denke, wir werden am Abend des 5. November nicht wissen, wie diese Wahl ausgegangen ist. Die Stimmenauszählungen laufen dann noch. Das kann sich verzögern. Gewiss in Pennsylvania, wo die Briefwahl-Umschläge erst am Wahltag geöffnet und ausgewertet werden dürfen. Und dieser Bundesstaat wird eine Schlüsselrolle spielen.
Was sagt Ihr Bauchgefühl?
Morain: Ich weiß es nicht. Ich habe 2016 geglaubt, dass Hillary Clinton gewinnen wird, nicht Donald Trump.
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Laut Umfragen hat die Kandidatin der Demokraten Schwierigkeiten, in wichtigen Bundesstaaten in Führung zu gehen. Glauben Sie, Kamala Harris macht genug, um unentschlossene Wähler zu erreichen?
Morain: Ich bin der Ansicht, dass sie und ihr Team einen nahezu makellosen Wahlkampf absolviert haben. Sie musste von 0 auf 100 in ganz kurzer Zeit durchstarten. Das war eine Herkules-Aufgabe. Sie hat das sehr gut hinbekommen. Aber natürlich gibt es Probleme. Sie ist anscheinend nicht sehr bekannt in der Wählerschaft. Sie hat offenkundig Probleme, Männer ohne Universitätsabschluss, besonders weiße Männer, für sich einzunehmen. Ich denke, sie macht alles, was möglich ist. Aber man kann niemanden zur Wahl zwingen.
Es gibt die Wahrnehmung, dass Kamala Harris die Politik des unbeliebten Joe Bidens fortsetzen könnte. Als sie gefragt wurde, was sie im Rückblick anders gemacht hätte, sagte sie, ihr falle nichts ein. Glauben Sie, dass das ausreicht?
Morain: Kamala Harris ist loyal zu Joe Biden. Sie wird nichts Abfälliges über ihn sagen, sollte sie auch nicht. Sie sind offenkundig in den vergangenen vier Jahren Freunde geworden und haben gegenseitig Respekt voreinander. Aber: Wenn sie ins Amt kommt, hat sie ihr eigenes Team, ihren eigenen Außenminister, ihren eigenen Generalstaatsanwalt. Sie wird andere Entscheidungen treffen als Joe Biden. Aber bei den großen Themen sind sich oft einig.
Hat sie genügend Einblick gegeben, wie eine Präsidentin Kamala Harris regieren würde? Sie blieb oft ungenau.
Morain: Ich kann sagen, dass sie mehr Details herausgelassen hat als bei ihrer Bewerbung für den Senat. Sie wird bei Themen wie Ukraine und Nato den Biden-Kurs fortsetzen. Sie ist sehr klar und deutlich, wenn es um Abtreibung geht.
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Sollte sie in der Israel-Gaza-Frage deutlicher werden, wenn man berücksichtigt, dass im umkämpften Bundesstaat Michigan viele Wähler muslimische Wurzeln haben und die US-Waffenlieferungen an Israel scharf kritisieren?
Morain: Sie hat sehr klar gemacht, dass die USA der wichtigste Verbündete Israels bleiben werden. Diese fundamentale Position wird nicht verändert. Wenn Sie mich fragen, ob sie unter vier Augen anders mit Premierminister Benjamin Netanjahu reden würde als Biden, sage ich: Da können Sie drauf wetten.
Hätte sie bei dem von Donald Trump hochgezogenen Thema illegale Einwanderung aufrichtiger sein und Fehler der Biden-Regierung eingestehen müssen?
Morain: Wissen Sie, das Einwanderungsthema gibt es seit Langem. Ich habe fast mein gesamtes Leben in Kalifornien verbracht. Wir sind ein Grenz-Staat, der früher zu Mexiko gehörte. Die Leute ziehen von einer Seite zur anderen, seit Jahrhunderten. Und sie werden nicht damit aufhören. Kamala Harris ist die Tochter von Einwanderern. Sie versteht das Problem sehr genau.
Viele Wähler finden, dass Harris zu unkonkret ist.
Morain: Sie ist Politikerin. Sie will sich Optionen offenhalten. Darum nimmt sie jetzt keine spezifischen Positionen ein. Ich erinnere mich, als sie Anfang 2015 ihre Kandidatur für den Senat bekanntgab. Journalisten wollten wissen, wie sie zur Nato steht. Es war schwer, von ihr eine Aussage zu bekommen. Sie hatte damals noch nicht genug darüber studiert. Kamala Harris macht ihre Hausaufgaben. Sie handelt überlegt. Sie macht wenig Fehler, wenn sie in der Öffentlichkeit spricht. Schon in ihrer Zeit in Kalifornien als Staatsanwältin hat sie immer nur dann Position bezogen, wenn sie es musste. Im laufenden Wahlkampf hat sie nichts gesagt, was sie einengt und später bereuen könnte. Ich sehe sie als gute Politikerin.
Noch mal: Ist das nicht zu vage?
Morain: Im Allgemeinen weiß man, wo sie steht. Sie ist politisch links von der Mitte verortet. Das ist ein etablierte Mainstream-Demokratin, die bei manchen Themen, etwa Kriminalitätsbekämpfung, ziemlich konservativ ist. Als sie Justizministerin war, schrieb ich einmal als Kolumnist, sie sei zu vorsichtig. Am Ende kam ich als ihr Biograf zu dem Schluss, dass man sich eine Generalstaatsanwältin genau so wünscht – als jemand, der sich zurückhält und die Dinge bis zum Ende denkt. Gewiss auch eine wichtige Qualität im Amt des Präsidenten. Donald Trump scheint dagegen impulsiv zu sein und nicht mehrere Schritte im Voraus zu denken.
Haben Sie ein Beispiel für die abwägende Kamala Harris?
Morain: In Kalifornien hätte sie damals als Justizministerin einem Klageverfahren gegen Trump wegen dessen gescheiterten Universitäts-Projekt beitreten können. Sie hat es nicht getan. Es waren ihr zu kleine Fische.
Seit Joe Biden den Kandidatur-Verzicht im Juli erklärt hat bis heute: Hat Sie etwas überrascht an Kamala Harris?
Morain: Sie war eine gute Kandidatin in Kalifornien. Sie ist heute noch besser. Ihre Reden sind besser geworden. Sie vertraut ihren Fähigkeiten. Und sie offenbart Dinge, die sie vor Jahren niemals öffentlich erzählt hätte. Etwa, dass sie eine Glock-Pistole besitzt und Eindringlinge damit erschießen würde. Ich wusste das nicht. Wie auch, dass sie bei McDonald‘s gearbeitet hat. Das ist neu.
Was noch?
Morain: Am aufschlussreichsten fand ich ihre Bemerkung in einer Fernsehrunde. Auf die Frage, wem ihr erster Anruf galt, nachdem Joe Biden im Sommer den Rückzug von der Kandidatur erklärt hatte, sagte Harris: ihrem Pastor. „Ich brauchte ein Gebet.“ Ich wusste, dass sie gläubig war. Aber sie hat früher nie über Religion gesprochen. Niemals.
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Wenn Sie gewinnt, würden wir eine andere Kamala Harris erleben? Offener, klarer, deutlicher, was ihre Ziele angeht?
Morain: Das glaube ich nicht. Sie weiß die Rolle von Journalisten zu schätzen. Aber das heißt ja nicht, dass sie das Biest ständig füttern will. Es ist Teil ihres Charakters, Dinge für sich zu behalten.
Sind noch Überraschungen zu erwarten von ihr in den letzten Tagen vor der Wahl?
Morain: Sie wird weiter über Trumps Unberechenbarkeit reden und über Abtreibung und darüber, dass möglichst viele Menschen zur Wahl gehen müssen. Es geht nur noch um die Wahlbeteiligung.
Was ist ihr größter Vorzug?
Morain: Sie glaubt an die Verfassung und an Rechtsstaatlichkeit. Sie bewundert nicht Hitler. Sie ist keine Radikale. Sie ist sehr schlau und tough. Sie lässt sich nicht herumschubsen. Wer Kamala Harris unterschätzt, tut das auf eigene Gefahr. Sie ist formidabel.
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