Essen. Wie die „Doppelspitze“ der NRW-SPD mit dem Thyssenkrupp-Vorstand und mit der Chefin der Krupp-Stiftung, Ursula Gather, abrechnet.

Die Spitze der nordrhein-westfälischen SPD fordert die schwarz-grüne Landesregierung von Ministerpräsident Hendrik Wüst (CDU) auf, sich mehr für die Beschäftigten des taumelnden Industriekonzerns Thyssenkrupp zu engagieren.

„Wir haben der NRW-Landesregierung eine gemeinsame Task-Force vorgeschlagen. Die Lage ist zu ernst für parteipolitische Spielchen. Wir wollen die Menschen, die um ihren Arbeitsplatz bangen, nicht im Regen stehen lassen. Das Land müsste endlich alle an einen Tisch holen“, sagte die Co-Vorsitzende des größten deutschen SPD-Landesverbandes, Sarah Philipp aus Duisburg, im Interview mit dieser Redaktion.

Angesichts der Tatsache, dass insgesamt zwei Milliarden Euro öffentliches Geld in die Modernisierung des Unternehmens fließen, sei es wichtig, politisch Kurs zu halten, so Philipp weiter. „Die Hilflosigkeit des Vorstandes bringt die Beschäftigten zu Recht in Rage. Der Vertrauensverlust gegenüber Thyssenkrupp-Chef Miguel López und der Konzernspitze ist unbeschreiblich“, sagte die SPD-Landtagsabgeordnete. Es habe im Ruhrgebiet schon viele harte Auseinandersetzungen rund um den Stahl gegeben, aber selten hätten die Sozialpartnerschaft und das Verhandeln auf Augenhöhe so auf der Kippe gestanden wie heute.

„Klassenkampf von oben bei Thyssenkrupp“

Co-Landesparteichef Achim Post sprach sich für einen Staatseinstieg bei Thyssenkrupp aus und forderte vom Konzernvorstand die Vorlage eines „Zukunftsplanes“, der für das Unternehmen und auch für die Beschäftigten passe. „Wir haben alle erlebt, wie der Stahlvorstand in einer Art ‚Klassenkampf von oben‘ ausgewechselt wurde. Das hat den angestoßenen Umstrukturierungsprozess zum Erliegen gebracht. Seither rennt die Zeit gegen Thyssenkrupp“, warnte der SPD-Bundestagsabgeordnete aus Espelkamp. „Alles, was wir gerade bei Volkswagen diskutieren, hat Auswirkungen auf die Stahlproduktion. Der Handlungsdruck wird größer.“

Scharf kritisiert die „Doppelspitze“ der NRW-SPD auch das Verhalten der gemeinnützigen Alfried Krupp von Bohlen und Halbach-Stiftung mit der Kuratoriums-Vorsitzenden Ursula Gather an der Spitze. „Ich glaube, dass der frühere Stiftungsvorsitzende Berthold Beitz das, was gerade geschieht, nicht goutieren würde“, sagte Achim Post.

Er sei „entsetzt“ darüber, wie man sich in der Stiftung in dieser kritischen Situation „so einseitig“ verhalten könne. „Ursula Gather hat sich zusammen mit Miguel López und Aufsichtsratschef Siegfried Russwurm bei der Abwägung zwischen einem radikalen Konsolidierungskurs auf der einen Seite und gesellschaftlicher Verantwortung auf der anderen leider für die falsche Seite entschieden“, betonte Post. Das bringe am Ende weder etwas für den Aktienkurs noch für das Unternehmen ThyssenKrupp, das Ruhrgebiet und das Land Nordrhein-Westfalen.

Lesen Sie hier das komplette Interview mit Sarah Philipp und Achim Post im Wortlaut

Sarah Philipp (41) aus Duisburg und Achim Post (65) aus Espelkamp leiten seit dem Sommer 2023 den größten deutschen SPD-Landesverband. Die Landtags- und der Bundestagsabgeordnete stehen vor der schwierigen Aufgabe, die kriselnde NRW-SPD wieder zu Erfolgen zu führen. Im WAZ-Interview reden sie über die Krise bei ThyssenKrupp, die Lage der Partei und die Kürzungen der Landesregierung im Sozialen.

Frau Philipp, Herr Post, als Sie vor einem Jahr als erste Doppelspitze der NRW-SPD an den Start gingen, kündigten Sie an, in die Köpfe und in die Herzen zu kommen. Da sind Sie noch nicht, oder?

Sarah Philipp: Die Umfragewerte der NRW-SPD sind nicht gut, das wissen wir. Da ist viel Luft nach oben. Umfragen, zweieinhalb Jahre vor der Landtagswahl, haben aber nicht die Aussagekraft, dass wir permanent schlaflose Nächte haben. Wir lassen uns nicht von dem Plan abbringen, den wir vor einem Jahr gemacht haben und seither verfolgen. Wir haben 2022 eine Landtagswahl verloren. Es gab seither viele Personalwechsel. Die Partei war verunsichert. Daher war es erstmal wichtig, die Partei zusammenzuführen. Egal, ob im Land, im Bund oder in den Kommunen, wir arbeiten jetzt mit- und nicht gegeneinander.

Das Vorbereitungsjahr ist rum. Wie wollen Sie denn nun durchstarten?

Sarah Philipp: NRW ist im Ländervergleich zu oft soziales Schlusslicht. Das betrifft die Armutsgefährdung, die U3-Betreuung, den Lehrkräftemangel. Der soziale Zusammenhalt steht auf dem Spiel. Die Grünen haben mal gesagt, sie seien das soziale Gewissen dieser Regierung. Davon sehe ich nichts. Es wird Zeit, dass wir die rote Laterne abgeben und unsere Hausaufgaben im Sozialen, bei der Bildung und in der Familienpolitik machen. Deshalb kritisieren wir auch das Streichkonzert der Landesregierung im Haushalt. Das ist dramatisch für NRW. In meiner Heimatstadt Duisburg stehen Schuldner-, Integrations-, Familienberatung auf der Kippe. Wenn CDU und Grüne ihre Haushaltspläne durchziehen, wird es in Duisburg keine Aidshilfe mehr geben und auch wichtige Integrationsprojekte mit Südosteuropäern sind gefährdet.

Essen - NRW-SPD-Doppelspitze im Interview
„Der soziale Zusammenhalt steht auf dem Spiel“: Sarah Philipp über die Einsparungen im Landeshaushalt. © FUNKE Foto Services | Lars Heidrich

Frage: Die Haushaltslage ist angespannt. Wo soll das Geld fürs Soziale denn herkommen?

Achim Post: Wenn wir nicht grundsätzlich etwas an den Finanzen von Bund, Ländern und Kommunen ändern, werden wir jedes Jahr sehen, dass das Geld vorne und hinten nicht reicht. Andere Bundesländer gründen Transformationsgesellschaften und setzen Anreize für die Wirtschaft. Andere CDU-Ministerpräsidenten drängen auf Lockerungen bei der Schuldenbremse. Nur Hendrik Wüst, der Ministerpräsident des bevölkerungsreichsten Bundeslandes, hält sich da zurück.

„Dann können Städte nur noch entscheiden, nach wem der Bahnhofsvorplatz benannt wird“

Wüst hat immerhin eine Landes-Altschuldenregelung für die Städte geschaffen. Die Ampel hat dieses Versprechen bisher nicht gehalten. Kommt da noch was?

Achim Post: Der Kanzler, die SPD, die Grünen, der Bundesfinanzminister – alle wollen den Altschuldenfonds. Aber diesen wird es nur mit einer Grundgesetzänderung geben. Für die notwendige Zweidrittelmehrheit brauchen wir die Union. Sobald Herr Wüst seine Parteifreunde in den CDU-geführten Ländern und der Bundestagsfraktion von diesem Schritt überzeugt, wird eine Altschuldenlösung kommen. Wenn den überschuldeten Städten nicht schnell geholfen wird, können sie zukünftig nicht mehr über Investitionen entscheiden. Höchstens noch darüber, nach wem der Bahnhofsvorplatz benannt wird.

Die Doppelspitze der NRW-SPD

Sarah Philipp aus Duisburg und Achim Post aus Espelkamp sind die erste „Doppelspitze“ in der Geschichte der NRW-SPD, und ihre Aufgabe ist herausfordernd: Die Wiederbelebung einer Partei, die sich der seit ihrer historischen Landtagswahlniederlage 2022 im Krisenmodus befindet. Die beiden traten 2023 die Nachfolge des Landesparteichefs Thomas Kutschaty aus Essen an.

Sarah Philipp (41) gehört dem Landtag seit 2012 an. Sie war Parlamentarische Geschäftsführerin der SPD-Landtagsfraktion, kandidierte im Mai 2023 vergeblich für den Fraktionsvorsitz, wurde aber wenige Monate später Vorsitzende der NRW-SPD. Die Duisburgerin studierte Geographie und Politik an der RWTH Aachen. Bis zu ihrem Einzug in den Landtag arbeitete sie als Quartiersmanagerin in einem Dortmunder Planungsbüro. Seit 25 Jahren ist sie SPD-Mitglied.

Achim Post wurde 1959 in Rahden/Westfalen geboren und lebt im ostwestfälischen Espelkamp. Er ist evangelisch, verheiratet und hat zwei Töchter. Er ist Diplom-Soziologe, arbeitete für mehrere SPD-Bundestagsabgeordnete und gehört dem Bundestag seit 2013 als Abgeordneter an. In die SPD trat er 1976 ein.  

Wir können doch den Staat nicht auf Pump aufbauen, oder?

Achim Post: Nein. Aber das Gegenteil ist genauso falsch. Christian Lindner inszeniert sich als Sparminister, weil das für ihn der letzte Zufluchtsort für liberale Werte zu sein scheint. Ausgerechnet in Zeiten, in denen Wachstumsimpulse wichtig sind. Ich bin zuversichtlich, dass wir nach der Bundestagswahl pragmatisch mit der Union – im Bund und in den Ländern – über eine Änderung der Schuldenbremse reden können.

Keine Lust auf eine Koalition mit dem „marktradikalen Friedrich Merz“

Das klingt nach Großer Koalition. Hätten Sie denn Lust darauf?

Achim Post: (lacht) Ich war zweimal ein Kämpfer für die Große Koalition mit Angela Merkel und das war in der SPD umstritten. Warum es unstrittiger sein sollte, mit einem marktradikalen Friedrich Merz eine Koalition zu machen als mit einer halbsozialdemokratischen Angela Merkel, müsste sich mir noch erschließen. Klare Antwort: Nein, große Lust darauf habe ich nicht.

Essen - NRW-SPD-Doppelspitze im Interview
Keine große Lust auf eine große Koalition: Achim Post. © FUNKE Foto Services | Lars Heidrich

Ein Problem des Ruhrgebiets ist die Flächennot. Es fehlen Grundstücke für Firmenansiedlungen. Warum kommt das nicht voran?

Sarah Philipp: Wir brauchen ein koordiniertes und städteübergreifendes Vorgehen, um Flächen zu entwickeln. Das könnte die Landesregierung über ihre landeseigenen Gesellschaften voranbringen. NRW hat ja sogar einen Staatsekretär, der sich eigens um die Entwicklung des Ruhrgebiets kümmern soll. Leider ist von ihm fast nichts zu hören. Und auch die Bilanz der Ruhrgebietskonferenz, die der frühere Ministerpräsident Armin Laschet sehr euphorisch ausgerufen hat, ist da leider traurig.

Braucht es wieder einen Grundstücksfonds, der sich um die Entwicklung von Brachen kümmert?

Sarah Philipp: Hier muss insgesamt mehr passieren. Alle Instrumente müssen dafür überprüft und neue Wege gegangen werden.

Ihr Parteikollege Markus Töns hat unlängst in einem offenen Brief an SPD-Innenministerin Faeser mehr Förderung für das Ruhrgebiet eingefordert. Was läuft da falsch?

Achim Post: Wissen Sie, als Hannelore Kraft noch Ministerpräsidentin in NRW war, da kannte sie keine Tages- und Nachtzeit, in der sie mich als Haushaltspolitiker nicht angerufen hat, weil sie Bundesgelder für ihr Bundesland haben wollte. Von der jetzigen Landesregierung vermisse ich diesen Druck total. Man muss für sich werben und gleichzeitig die Themen erkennen, bei denen man parteiübergreifend zusammenarbeiten sollte.

Sarah Philipp: : Thyssenkrupp ist so ein Thema. Wir haben der Landesregierung eine gemeinsame Task-Force vorgeschlagen. Die Lage ist zu ernst für parteipolitische Spielchen. Wir wollen die Menschen, die um ihren Arbeitsplatz bangen, nicht im Regen stehen lassen. Das Land müsste endlich alle an einen Tisch holen.

Bund und Land gaben Thyssenkrupp zwei Milliarden Euro für den Einstieg in den grünen Stahl. Wie blicken Sie auf die Lage der Stahlsparte?

Achim Post: Wir haben alle erlebt, wie der Stahlvorstand in einer Art ‚Klassenkampf von oben‘ ausgewechselt wurde. Das hat den angestoßenen Umstrukturierungsprozess zum Erliegen gebracht. Seither rennt die Zeit gegen Thyssenkrupp. Alles, was wir gerade bei VW diskutieren, hat Auswirkungen auf die Stahlproduktion. Der Handlungsdruck wird größer und ich erwarte vom Vorstand endlich einen Zukunftsplan, der für das Unternehmen und die Beschäftigten passt.

„Ich bin dafür, dass der Staat bei Thyssenkrupp reingeht“

Bei einem Staatseinstieg hätte der Bund im Aufsichtsrat die Chance, mehr Fragen zu stellen.

Achim Post: Ich bin dafür, dass der Staat da reingeht.

Die Krupp-Stiftung mit Ursula Gather an der Spitze hat sich ja überraschend schnell und eindeutig auf die Seite von Vorstandschef Miguel López geschlagen. Wie sehen Sie die Rolle der Stiftung?

„Berthold Beitz hätte das nicht goutiert“

Achim Post: Ich glaube, dass der frühere Stiftungsvorsitzende Berthold Beitz das, was gerade geschieht, nicht goutieren würde. Ich bin entsetzt, wie man sich so einseitig verhalten. Ursula Gather hat sich zusammen mit Miguel López und Siegfried Russwurm bei der Abwägung zwischen einem radikalen Konsolidierungskurs auf der einen Seite und gesellschaftlicher Verantwortung auf der anderen leider für die falsche Seite entschieden. Das bringt aber am Ende weder etwas für den Aktienkurs noch für das Unternehmen Thyssenkrupp, das Ruhrgebiet und das Land NRW.

Sarah Philipp: Angesichts der Tatsache, dass zwei Milliarden Euro öffentliches Geld in die Modernisierung des Unternehmens fließen, ist es umso wichtiger, politisch Kurs zu halten. Die Hilflosigkeit des Vorstandes bringt die Beschäftigten zu Recht in Rage. Der Vertrauensverlust gegenüber López und der Konzernspitze ist unbeschreiblich. Es hat im Ruhrgebiet schon viele harte Auseinandersetzungen rund um den Stahl gegeben, aber selten standen die Sozialpartnerschaft und das Verhandeln auf Augenhöhe so auf der Kippe wie heute.

Das Gespräch führten WAZ-Chefredakteur Andreas Tyrock, Oliver Hollenstein, Matthias Korfmann, Frank Meßing und Stephanie Weltmann

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