Berlin. Immer seltener locken Betriebe junge Menschen ins Handwerk: Das liegt nicht nur an Gehalt und Arbeitzeiten – sondern auch am Zeitgeist.

2023 blieben in Deutschland so viele Ausbildungsplätze wie noch nie unbesetzt. Das Bundesinstitut für Berufsbildung (BIBB) informiert über rund 13 Prozent vakante Stellen, gemessen am „gesamten betrieblichen Angebot“. Doch der Anteil liegt wohl deutlich höher. 35 Prozent sind es laut dem Institut für Arbeitsmarkt- und Berufsforschung (IAB). Dass sich die Zahlen beider Erhebungen so krass voneinander unterscheiden, liegt daran, dass das BIBB nur die bei den Arbeitsagenturen gemeldeten offenen Stellen erfasst, das IAB dagegen alle von den Betrieben berichteten.

Düster sehe es unter anderem in Handwerksberufen aus, sagt Hubert Ertl, Forschungsdirektor und stellvertretender Präsident des BIBB. Ihm zufolge fehlen Bewerber vor allem bei Klempnern, Rohrleitungsbauern oder Glasern. Ähnliches gilt für Fleischer und Bäcker sowie für die kaufmännischen Berufe im Einzelhandel. Die Gründe hierfür sind vielschichtig.

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Zum einen liege es an einer geringeren Attraktivität der Berufe und zum anderen gebe es auch Imageprobleme. Zum Beispiel sei der Rohrleitungsbauer heutzutage eigentlich ein Hightech-Beruf, aber „kaum einer weiß das“, sagt Ertl. Bilder, die Jugendliche von diesem Job im Kopf haben, hätten mit der Realität oft nichts zu tun. Ertl weiter: „Wir sehen aber auch aus den Befragungen, dass es oft um ungünstige Arbeitsbedingungen geht“. Ertl nennt hierfür exemplarisch die Arbeitszeiten im Gastronomie- und Hotelbereich.

Alterndes Deutschland macht den Universitäten zu schaffen

Haupttreiber für das Defizit am Ausbildungsmarkt ist nach wie vor der demografische Wandel. Zu diesem Urteil kommt eine Studie der Bertelsmann-Stiftung aus dem vergangenen Jahr. Demnach zeige der Trend nicht nur bei den beruflichen, sondern auch bei akademischen Ausbildungen klar nach unten. Belegt wird das mit Zahlen: Zwischen 2011 und 2021 sanken diese bei den Auszubildenden um 73.000 auf rund 660.000 und bei den Erstsemestern um 49.000 auf circa 470.000.

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Vorteil einer Berufsausbildung: Im Gegensatz zu Studierenden erhalten Azubis schon Gehalt. © Getty Images | miodrag ignjatovic

Ferner räumt die Studie mit dem Mythos auf, dass der „Studienboom“ für die Azubi-Flaute in den Betrieben verantwortlich wäre. Verglichen werde gern nur die duale mit der akademischen Ausbildung und die rein schulische werde häufig unterschlagen. Davon betroffen sind die Bereiche Pflege und Erziehung. Dass der Trend zum Studium nicht ursächlich für den aktuellen Azubi-Mangel ist, zeige auch der Blick auf die Berufe, die unter den größten Nachwuchssorgen leiden. So stünden Klempner, Fleischer oder Fachverkäufer in keiner Konkurrenz zu akademischen Berufen.

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Dass junge Leute gern studieren wollen, liege zudem nicht allein daran, dass sie später mehr Geld verdienen wollen. Dass ein Studium „per se ein höheres Lebensentgelt garantiert und dass die berufliche Bildung nicht auch zu einem vergleichbaren Einkommen führen kann“, sei ein Trugschluss, bestätigt Ertl und ergänzt: „Berufliche Ausbildung ist der Einstieg in eine Perspektive, die dich eine ganze Karriere lang halten kann und halten wird.“ Jemand mit Berufsausbildung, der später noch seinen Meister mache, bewege sich überdies auf einer sehr ähnlichen Gehaltsebene wie jemand mit Hochschulstudium.

Der Klimawandel wühlt die Berufsbilder kräftig durcheinander

Der Mangel an Bewerbern hängt eben auch mit der Attraktivität der Jobs zusammen. Da spiele laut Ertl schon eine Rolle, ob es sich um schwere körperliche Arbeit handelt oder nicht. Nach Geld wird erst danach gefragt. Ein Beispiel sei der Friseurberuf: Obwohl Beschäftigte in der Branche vergleichsweise wenig verdienen, ist er nach wie vor sehr beliebt bei jungen Frauen. Große Unterschiede zeigen sich auch regional: Ob es zu wenige Bewerbern oder einen Stellenmangel gibt, hänge sehr stark mit der Wirtschaftsstruktur der jeweiligen Region zusammen.

Auch der gesellschaftliche Wandel – hin zu mehr ökologischem Handeln – lässt sich daran ablesen, für welche Jobs sich junge Menschen entscheiden. Die Analysen zeigen: Der Trend geht zu den sogenannten Green Skills, also Berufen, die sich für den Einzelnen dadurch auszeichnen, etwas für die Umwelt oder das Klima zu tun. Das erhöhe laut Ertl ebenfalls die Attraktivität des Berufes. Laut einer Untersuchung des IAB gab es in diesen Branchen ein Bewerberzuwachs von 14 Prozent zwischen 2013 und 2021.

Die richtige Einwanderungspolitik hilft, die Probleme zu lösen

Im selben Zeitraum brachen demgegenüber die Zahlen besetzter Ausbildungsstellen in Berufen aus der Baustoffherstellung oder der Nutztierhaltung („Brown Skills“) um 15 Prozent ein. Ein Hebel, um diese Risse wieder zu schließen, könnte eine kluge Einwanderungspolitik sein. Sprich: ein Aufenthaltstitel dank einer Berufsausbildung in Deutschland. „Im Vergleich zum Hochschulstudium stehen wir hier aber eher noch am Anfang“, meint Ertl. In Zahlen ausgedrückt: Im Jahr 2022 gab es 51.000 neu erteilte Aufenthaltstitel für ein Studium, für eine Berufsausbildung waren es aber nur etwas mehr als 14.000.

„Hier sind vom Gesetzgeber jetzt einmal Grundlagen geschaffen worden, die noch durchs System wachsen müssen“, sagt Ertl. Was es jetzt brauche, seien Beratungs- und Informationsangebote vor Ort für Betriebe, die Azubis aus dem Ausland einstellen wollen. Zudem müssen mit Unterstützungs- und Sprachangeboten die nötigen Strukturen für Menschen aus dem Ausland geschaffen werden, sich in Deutschland ausbilden zu lassen.