Berlin. Die zerstörte Stadt Mariupol könnte Vorbild für eine neue russische Offensive sein. Militärexperte Masala blickt düster auf die Lage.
Herr Masala, wie ist aktuell die Lage an der ukrainischen Front?
Carlo Masala: Die Russen versuchen immer stärker, aus Charkiw ein zweites Mariupol zu machen. Charkiw ist die Stadt, die bei der ersten ukrainischen Gegenoffensive gefallen ist, und die russische Front ist zusammengebrochen. Sollte es zu einer großen Offensive bei Kupjansk und zu einem Durchbruch kommen, wäre der Weg nach Charkiw frei und die Stadt sturmreif geschossen. Sollte es nicht dazu kommen – und danach sieht es im Moment aus –, wird die Stadt so lange aus der Luft beschossen, bis sie in ihren Grundzügen nicht mehr existiert. Es zwingt Menschen zur Flucht. Das ist etwas, was Putin und seine Leute erreichen wollen.
Wo konkret sehen Sie die Parallelen zu Mariupol?
In der totalen Zerstörung der Stadt.
Um Charkiw herum soll jetzt ein Schutzwall entstehen …
Die Ukraine will ihre Verteidigungsstellungen ausbauen. Die Frage, die man von außen nicht beantworten kann, ist: Haben sie das Material dazu? Werden die Verteidigungsstellungen tief genug gestaffelt sein, dass sie eine mögliche russische Offensive aufhalten können? Das kann ich erstmal nicht definitiv bejahen. Wir wissen aus anderen Verteidigungsstellungen, dass den Ukrainern teilweise das Material fehlt. Das könnte sich geändert haben, aber ich bin nicht so optimistisch wie Selenskyj.
Bei Angriffen aus der Luft bringt so ein Schutzwall wenig.
Richtig, da bringt er nichts. Er bringt nur etwas, wenn die Stadt von Bodentruppen angegriffen wird.
Dann ist es also das, was die Ukraine jetzt für Charkiw erwartet?
Ja. Aber wie immer im Krieg: Man weiß es nicht genau.
Carlo Masala
Er ist einer der bekanntesten Militärexperten in Deutschland. Masala (Jahrgang 1968) lehrt Internationale Politik an der Universität der Bundeswehr München. Er beantwortet unserer Redaktion jede Woche die wichtigsten Fragen rund um den Konflikt in der Ukraine.
Russland hat jetzt mehrfach die sogenannte Double-Tap-Technik eingesetzt, die es schon in Syrien angewandt hat – beim zweiten Schlag sollen Rettungskräfte getroffen werden. Wie ist das zu bewerten?
Das ist eine extrem hinterhältige Taktik, die darauf abzielt, so viele Zivilisten, vor allem Rettungskräfte, wie möglich zu erwischen. Das ist ein Kriegsverbrechen.
Was erwarten Sie davon, wenn China jetzt die strategische Zusammenarbeit mit Russland stärken will?
Die Chinesen unterstützen die Russen seit geraumer Zeit mit Beratung und der Herstellung von Rüstungsgütern. Die strategische Zusammenarbeit bezieht sich auf die Entwicklung im internationalen System. Meines Erachtens – und da muss man vorsichtig sein – sind die Chinesen der Auffassung, dass es den Russen letztlich gelingen wird, ihre Ziele in der Ukraine durchzusetzen.
Olaf Scholz weist regelmäßig darauf hin, dass andere Länder mehr tun könnten. Ist das eine Strategie, die uns weiterbringt?
Nein, das bringt uns überhaupt nicht weiter. Schon seit Anfang Februar ist das die Argumentationslinie der Bundesregierung. Wir sehen jetzt: Das erhöht nicht den Druck auf andere. Die Initiative ergreifen andere, etwa die Tschechen mit ihrem internationalen Munitionsvorstoß. Die Franzosen haben zwar entschieden, ins Ausland verkauftes Material zurückzukaufen und in die Ukraine zu schicken. Das hat aber mehr mit der Veränderung der Position Macrons zu tun und nicht so sehr mit Scholz‘ Versuch, Druck aufzubauen. Diese rhetorischen Winkelzüge sind rein für die deutsche Innenpolitik.
Viele Beobachter sagen, es sollte Schluss sein mit dem Fingerzeig auf andere und man müsse der Ukraine helfen, den Krieg zu gewinnen.
Dem schließe ich mich uneingeschränkt an. Von einem deutschen Bundeskanzler, der sich im „Spiegel“ mit den Worten zitieren lässt „Man muss die Ukraine militärisch unterstützen, denn nur wenn sich das militärische Blatt wendet, wird Putin einlenken“ – von dem erwarte ich politische Initiativen. „Blame and shame“ mit Blick auf andere Europäer wird da nicht helfen. Der eigentliche Punkt bleibt bestehen: In absoluten Zahlen ist Deutschland der zweitgrößte Unterstützer. Aber gemessen am Bruttoinlandsprodukt ist Deutschland prozentual weiterhin im Mittelfeld. Man redet sich die Statistiken schön.
Scholz will sich also aus rein innenpolitischen Gründen nicht weiter aus dem Fenster lehnen, als es unbedingt sein muss?
Ja. Scholz sprach sich gegen die Lieferung der Taurus aus, unter anderem mit dem Argument, dass die Ukraine am dringlichsten Luftverteidigung brauche. Dabei sehen wir tagtäglich, wie die Zahl von abgeschossenen Drohnen und Raketen im Vergleich zu heranfliegenden Drohnen und Raketen immer weiter sinkt. Da muss man dann die Frage stellen: Wenn Luftverteidigung das Wichtigste für die Ukraine ist – wo ist sie denn dann? Wo ist die Munition für die Luftverteidigung, wo sind die Systeme? Die kommen ja auch nicht.
Manche wie der Militärexperte Gustav Gressel fürchten eine neue Debatte in der zweiten Jahreshälfte, diesmal allerdings um die Eurofighter-Kampfjets.
Definitiv. Wir werden diese Debatte bekommen, aber wir werden keine Eurofighter liefern. Zu dem Zeitpunkt dürften wir kurz vor drei wichtigen Landtagswahlen stehen. In zwei dieser Bundesländer steht die SPD kurz davor, pulverisiert zu werden. Der Kanzler wird sich dann nicht dazu durchringen, Eurofighter zu schicken.
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Ist die Ukraine tatsächlich verloren, falls die USA das 60-Milliarden-Hilfspaket nicht verabschieden?
Nein, verloren ist sie nicht. Aber mit Blick auf Kurzstreckenraketen längerer Reichweite wird es dann problematisch. Die Ukrainer werden weiter in der Lage sein, sich zu verteidigen. Es reicht aber nicht, sich nur zu verteidigen – man muss dem Gegner auch mit Blick auf seine logistischen Kapazitäten Verluste zufügen. Diese Mittel werden nicht kommen, weswegen es für die Ukraine extrem schwierig wird.
Wie sehen Sie die Vorfälle, bei denen russische Flugzeuge in den europäischen Luftraum eindringen?
Moment, das muss man richtigstellen: Russische Flugzeuge befinden sich im internationalen Luftraum. Sie haben in diesen Fällen nur ihren Transponder ausgeschaltet und simulieren, auf dem Weg in die nationalen Lufträume zu sein. Das verleitet Nato-Staaten dazu, ihre Flugzeuge aufsteigen zu lassen, in die Nähe der russischen Maschinen zu kommen und sie gegebenenfalls abzudrängen. Das sehen wir seit Jahren – und das machen Nato-Staaten genauso.
Lassen Sie uns noch einmal nach Israel schauen: Wie schwierig ist es eigentlich, in einem dichtbesiedelten Gefechtsfeld zu operieren, wie es die IDF in Gaza machen?
Das sind die kompliziertesten Gefechte, weil sie sich im dreidimensionalen Raum bewegen. Der Feind kann von vorn, von der Seite, von hinten, von oben und unten kommen. Das ist absolut gefährlich. Dass Zivilisten dabei ums Leben kommen, ist kriegsvölkerrechtlich gedeckt – solange die Verhältnismäßigkeit gewahrt wird. Das heißt: gemessen an der Bedeutung des zerstörten militärischen Ziels. Wenn Sie eine Raketenwerferanlage in einem Hochhaus haben, können Sie die mit einem Präzisionsschlag zerstören. Wenn dabei Zivilisten, die links und rechts davon wohnen, ums Leben kommen, ist das bedauerlich, aber kriegsvölkerrechtlich völlig in Ordnung. Wenn Sie aber das gesamte Hochhaus plattmachen, ist es nicht verhältnismäßig.
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Ist Israels Einsatz im Gazastreifen noch verhältnismäßig?
Man muss zwei Sachen unterscheiden: die Kriegsführung und die Versorgung der Bevölkerung. Der Angriff auf die Helfer der World Central Kitchen ist ein Kriegsverbrechen. Gleichzeitig tut Israel enorm viel, um Zivilisten zu schützen. Es ist ein komplexes Bild. Es gibt kein wahlloses Bombardieren der Zivilbevölkerung.
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