Berlin. Zwischen Berlin und Paris bahnt sich eine ernste Krise an – das liegt auch an den ungleichen Denkarten der Regierungschefs. Wo es hakt.
Auf dieses Krisentreffen im Kanzleramt blickten viele Regierungschefs in Europa: Bundeskanzler Olaf Scholz und Frankreichs Präsident Emmanuel Macron haben versucht, ihren offenen Konflikt über die Ukraine-Strategie beizulegen, der die gesamte EU belastet. Nach Monaten der Rivalität um die Führung in Europa berieten beide am Freitag stundenlang im Kanzleramt. Helfen sollte Polens Premier Donald Tusk, der nach zwei Stunden am Mittag dazu kam.
Das Trio versuchte nach dem Gespräch, Einigkeit bei der Unterstützung der Ukraine zu demonstrieren, kündigte mehr Waffenlieferungen an: „Wir werden alles tun, was notwendig ist, damit Russland den Krieg nicht gewinnen kann“, sagte Macron. Aber die demonstrative Einigkeit konnte nicht verdecken, dass der Streit zwischen Macron und Scholz wohl weitergeht. Dafür gibt es gleich mehrere Gründe:
1. Streitpunkt: Bodentruppen
Hier ist der Graben besonders tief. Macron hatte vor drei Wochen in Paris im Anschluss an ein Treffen von 20 Staats- und Regierungschefs die Entsendung von westlichen Bodentruppen in die Ukraine ausdrücklich nicht ausgeschlossen und damit für einen Eklat gesorgt. Scholz widersprach ehedem sehr deutlich, auch mit Blick auf andere Staaten der EU oder der Nato: „Auch für die Zukunft gilt, dass es keine Bodentruppen, keine Soldaten auf ukrainischem Boden geben wird“, sagte der Kanzler.
Tusk und weitere EU-Regierungschefs distanzierten sich ebenfalls. Doch der Präsident lässt nicht locker: Am Vorabend seines Berlin-Besuchs erneuerte Macron in einem TV-Interview seine Position – kein freundliches Signal an den Gastgeber. Macron warnte, der Westen solle sich im Vorhinein auch keine Grenzen auferlegen, um einen russischen Sieg zu verhindern: „Alle Optionen sind möglich.“
2. Waffenstreit um Taurus & Co.
Auch wegen der Waffenlieferungen an die Ukraine herrscht dicke Luft, doch an diesem Punkt gab es Fortschritte. Scholz sagte: „Wir werden ab sofort noch mehr Waffen beschaffen – und zwar auf dem gesamten Weltmarkt“. Die Produktion militärischen Geräts werde ausgebaut, auch in der Ukraine. Außerdem bekräftigte die drei frühere Absprachen zu einer „Fähigkeitskoalition für weitreichende Raketenartillerie“.
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Der Kauf von Waffen für die Ukraine werde auch durch Einnahmen aus eingefrorenen russischen Vermögenswerten finanziert, sagte Scholz. Das war bislang umstritten. Aber reicht das? Scholz klagt seit Monaten, dass Deutschland sehr viel an militärischer Hilfe für die Ukraine leiste, andere EU-Staaten dagegen zu wenig. Gemeint ist vor allem Frankreich. Die Regierung in Paris ist empört, weist die deutschen Zahlen als falsch zurück und bezweifelt hinter den Kulissen die Schlagkraft der deutschen Waffen.
Macrons Umfeld verweist darauf, dass Frankreich der Ukraine strategisch wichtige Marschflugkörper vom Typ Scalp geliefert habe – während Scholz weiter Nein zur Lieferung der von der Ukraine ersehnten Taurus-Marschflugkörper sagt. Dass Macron kürzlich in Prag erklärte, es sei in Europa „angebracht, nicht feige zu sein“, wurde in der Bundesregierung als Seitenhieb auf Scholz im Taurus-Streit verstanden.
3. Non, merci – Kein Atomwaffen-Dialog
Frankreich pocht als einzige Atommacht in der EU auf eine führende Rolle in der Sicherheitspolitik, auch bei der Abschreckung Russlands. Macron hat vor vier Jahren einen Dialog über die Rolle der 300 französischen Atomwaffen für Europas Verteidigung angeboten, die bislang allein zur nationalen Verteidigung gedacht sind.
Konkrete Angebote Macrons gibt es nicht, die Bundesregierung ist weiter skeptisch. Scholz glaubt, die relativ wenigen Atomwaffen Frankreichs reichten auch gar nicht für eine glaubwürdige atomare Abschreckung aus, die könnten nur die USA garantieren. Macron fühlt sich düpiert, aber der Kanzler weiß sich einig auch mit Tusk: Polen setzt traditionell stark auf den Schutz der USA.
4. Beim Geld hört die Freundschaft auf
Wenn es ums Finanzielle geht, prallen mit Deutschland und Frankreich zwei Denkschulen aufeinander: Hier die sparsamen Deutschen, die nichts so sehr fürchten wie höhere Schulden. Und dort die freigiebigeren Franzosen, die nicht einsehen, warum man wegen ökonomischer Zwänge von Vornherein auf politische Optionen verzichten sollte. Frankreich plädiert schon seit vielen Jahren dafür, die Finanzierung der Europäischen Union auf eine ganz neue Grundlage zu stellen und gemeinsam Kredite aufzunehmen – was bisher nur in Ausnahmefällen geschieht.
Macron ist angesichts des russischen Angriffskriegs gegen die Ukraine auch der Ansicht, dass sich die EU gemeinsam verschulden müsse, um mehr Investitionen in Verteidigung und Rüstungsindustrie möglich zu machen. In Berlin mag man solche Überlegungen nur bedingt: Es ist vor allem der kleinste Koalitionspartner, die FDP, der immer wieder vor einer „Schuldenunion“ warnt. Scholz muss Rücksicht auf die Liberalen nehmen. Er selbst ist bei diesem Thema wesentlich entspannter: Schließlich war er während der Corona-Pandemie noch als Finanzminister einer der Architekten des EU-Wiederaufbaufonds im Umfang von 800 Milliarden Euro, in dessen Rahmen sich die Union erstmals im großen Stil gemeinsam verschuldet.
5. Schwieriges Verhältnis zu den USA
Auch wenn es um die Beziehungen zu den Vereinigten Staaten geht, treten im Verhältnis zwischen Berlin und Paris langjährige Differenzen offen zutage. Deutschland als ehemaliger Frontstaat im Kalten Krieg kann sich nicht vorstellen, dass Europas Sicherheit ohne die Amerikaner gewährleistet werden könnte. Frankreich hingegen betrachtet die europäische Einigung seit jeher auch als Mittel, um sich von amerikanischer Dominanz zu emanzipieren und mitzuspielen im Konzert der Weltmächte. Macron spricht von „europäischer Souveränität“, sieht auch jetzt in Sachen Ukraine eine eigenständige politische Rolle für sein Land und für Europa. Scholz hingegen betont bei jeder Gelegenheit, wie wichtig gerade jetzt der transatlantische Zusammenhalt sei.
6. Ein bisschen Rücksicht auf Russland
Als Scholz im Februar 2022 angesichts des russischen Einmarsches in der Ukraine von einer „Zeitenwende“ sprach, war das auch ein Bruch mit der Tradition sozialdemokratischer Außenpolitik. Die war seit Willy Brandts Ostpolitik stets um Dialog und Ausgleich mit Moskau bemüht. So ganz befreien konnte sich Scholz davon bis heute nicht, wie seine seine Weigerung nahelegt, Taurus-Marschflugkörper in die Ukraine zu liefern. Macron hingegen geht auch verbal auf maximale Distanz zu Russland.
„Sollte Russland gewinnen, wäre Europas Glaubwürdigkeit dahin“, sagte er im TV-Interview. Wer in Sachen Ukraine-Unterstützung von vornherein Dinge ausschließe, „entscheidet sich nicht für den Frieden, sondern für die Niederlage“. Diese Härte ist ziemlich neu: Noch nach dem russischen Einmarsch in der Ukraine hatte Macron gewarnt, man dürfte Russland nicht demütigen. Zeitweise galt er sogar als Russenversteher: In seiner ersten Amtszeit bemühte sich Macron aktiv um ein besseres Verhältnis der EU zu Moskau.
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