Kiew. Mariupol ist eine Trümmerwüste, doch viele Russen sehen Potenzial in der Stadt. Der Wohnungsmarkt boomt – aller Gefahren zum Trotz.
Mariupol gilt wie keine andere Stadt in der Ukraine als Symbol für die zerstörerische Wucht des Krieges – 90 Prozent der Wohnhäuser und 60 Prozent der kleinen Privathäuser am Rande der Stadt sind laut einem UN-Bericht durch die schweren Kämpfe und die Umzingelung durch die Russen 2022 zerstört worden. Zehntausende Menschen starben, wie viele Tote noch immer unter Trümmern liegen – niemand weiß es genau. Seit ihrer Eroberung durch die russische Armee ist Mariupol besetzt.
Von den einst 400.000 ukrainischen Einwohnern der Hafenstadt sind nur noch 80.000 geblieben, schätzt Petro Andrjuschtschenko, ein Berater des ukrainischen Bürgermeisters von Mariupol. Der lebt längst im Exil, weiß aber recht genau, in welche Richtung sich seine Stadt inzwischen entwickelt. Es gibt einen regen Zuzug – vor allem von Russen. 40.000 sollen bereits in der Stadt am Asowschen Meer leben.
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„Wenn es so weitergeht, wenn die Stadt nicht innerhalb des nächsten Jahres befreit wird, werden wir von 80.000 bis 120.000 russischen Staatsbürgern sprechen müssen, die in Mariupol leben und dort bereits registriert sein werden“, sagte Andrjuschtschenko kürzlich dem russischsprachigen Sender Current Time mit Sitz in Prag. Und das, obwohl Mariupol eine Schlüsselstadt für die Ukraine bleibt und zu den wichtigsten Zielen der aktuellen Gegenoffensive gehört.
Trotz Beschuss und Tausender Gräber – Russen wollen nach Mariupol
Seitdem die ukrainischen Streitkräfte auch über britische Marschflugkörper des Typs „Storm Shadow“ verfügen, werden regelmäßig die russischen Öl- und Munitionsdepots in der Stadt angegriffen. Die Stadt ist längst nicht sicher. Zu den mehr als 10.000 Gräbern, die die Nachrichtenagentur Associated Press Ende des letzten Jahres zählte, können jederzeit neue kommen. Trotzdem hat Russland in den vergangenen Monaten aktiv Wohnhäuser repariert – und einige Stadtteile komplett neu aufbaut.
Ein Beispiel dafür ist der neu entstandene Mikrobezirk Newskij, der von einem Unternehmen des russischen Verteidigungsministeriums aufgebaut wird. Selbst der russische Präsident Wladimir Putin zeigte sich dort während seines Propaganda-Besuchs in Mariupol Mitte März. Die meisten Bauaufträge haben Firmen aus seiner Heimatstadt St. Petersburg erhalten.
Schon damals gab Russland an, 1829 Gebäude repariert und 36 Wohnhäuser in der Stadt gebaut haben. Die Wirklichkeit sieht aber trotz der tatsächlich massiven Bauarbeiten anders aus als auf den Propaganda-Bildern. Youtube-Videos der noch vor Ort gebliebenen lokalen Blogger zeigen teils apokalyptische Panoramen: auf der einen Straßenseite vom Beschuss geschwärzte Gebäude, auf der anderen schicke Neubauten – eine absurde Doppelrealität.
Vom Beschuss geschwärzte Gebäude neben Neubauten
Trotzdem: Die Nachfrage nach Wohnungen in Mariupol ist groß in Russland. Allein in dem russischen sozialen Netzwerk VKontakte existieren rund 100 Gruppen, in denen Immobilien in der okkupierten Stadt angeboten oder angefragt werden. Die ersten Anzeigen in der größten Gruppe gab es schon Anfang Mai des vergangenen Jahres – damals waren die Kämpfe um das Asow-Stahlwerk noch in vollem Gange.
Anfragen aus Russland gibt es von Interessenten aus den unterschiedlichsten Regionen: von Moskau bis St. Petersburg, von Krasnodar bis Nowossibirsk. Oft zeigen die Russen ausdrücklich Interesse an Wohnungen in „jeglichem Zustand“ – zur Not würden sie diese auch selbst reparieren. Dass es Wohnungsbesitzer in Mariupol gibt, die tatsächlich ihre Bleibe loswerden wollen, ist nicht ganz unglaubwürdig. Für sie dürfte es die einzige Möglichkeit sein, um damit noch etwas Geld zu verdienen.
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Allerdings lässt sich kaum überprüfen, ob es überhaupt die rechtmäßigen Besitzer sind, die Wohnungen in Mariupol über russische Anzeige-Portale oder VKontakte inserieren. Gut möglich ist auch, dass es sich teilweise um besetzte Immobilien handelt. Umso bemerkenswerter, dass die Durchschnittspreise in Wirklichkeit gar nicht so niedrig sind wie man erwarten könnte.
Mariupol – schon bald ein Magnet für russische Touristen?
Das unabhängige russische Online-Portal Bumaga („Papier“) hat einige Russen angeschrieben, die am Kauf von Immobilien in Mariupol interessiert waren. Fast alle gaben demnach an, die Donbass-Stadt aufgrund ihrer Nähe zum Meer ausgewählt haben. Dies werde Mariupol in Zukunft attraktiv für Touristen machen. Die allermeisten der Befragten seien zuvor aber nie selbst in der Stadt gewesen.
Angst habe die Mehrheit der Befragten laut dem Bericht nicht – weder vor dem ukrainischen Beschuss noch vor möglicherweise wieder aufflammenden Kämpfen in der Stadt. „Das mag seltsam klingen, aber ich glaube an die Entwicklung der Stadt“, wird Olessja aus Omsk zitiert. „Unter Russland erwartet Mariupol eine große Zukunft. Die Stadt wird ein wichtiger Ort für Erholung und Tourismus. Zudem ist Mariupol eine Heldenstadt. Das Schlimmste, was dort passieren könnte, ist bereits passiert.“
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Auch Irina aus Krasnojarsk will sich nicht abschrecken lassen. „Ich habe zwar Angst, dass die Kampfhandlungen dort erneut beginnen könnten, doch der Krieg wird nicht ewig weitergehen“, meint sie. „Wir wollen an einem Ort am Meer mit guter Ökologie sein. Außerdem gibt es in Mariupol noch günstige Immobilien und attraktive Gehaltsangebote für meinen Mann, der als Elektriker arbeitet.“
Der Bedarf an Elektrikern dürfte in Mariupol während des Wiederaufbaus tatsächlich groß sein. Was die Lebensqualität angeht, fand sich die Stadt wegen ihrer schweren Industrie allerdings nicht unbedingt auf den vorderen Rängen im innerukrainischen Vergleich. Der Krieg hat die Industrie nun aber zum großen Teil zunichte gemacht – in die Reparatur des Asow-Stahlwerks will Russland gar nicht erst investieren. Doch bis zum Kurort am Meer fehlt einiges.
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Land | Ukraine |
Kontinent | Europa |
Hauptstadt | Kiew |
Fläche | 603.700 Quadratkilometer (inklusive Ostukraine und Krim) |
Einwohner | ca. 41 Millionen |
Staatsoberhaupt | Präsident Wolodymyr Selenskyj |
Regierungschef | Ministerpräsident Denys Schmyhal |
Unabhängigkeit | 24. August 1991 (von der Sowjetunion) |
Sprache | Ukrainisch |
Währung | Hrywnja |