Berlin/Jerusalem. Diese Brutalität habe es seit dem Holocaust nicht mehr gegeben, sagt Premier Netanjahu. Inzwischen zeigt sich das Ausmaß des Grauens.
Es sind kleine Kinder, Babys sogar. Teenager, Mütter und Väter, Senioren. Junge Menschen auf einem Festival. Sportler. Alle hingerichtet oder entführt von Hamas-Terroristen. Was Tage nach dem Angriff auf die israelische Zivilbevölkerung sichtbar wird, ist kaum zu ertragen. Inzwischen liegt die Zahl der Menschen, die mitten aus ihrem Alltag heraus aus ihren Häusern geholt und ermordet oder entführt wurden, im vierstelligen Bereich. Mehrere tausend Menschen sind verletzt, viele von ihnen liegen in Krankenhäusern, ringen um ihr Leben. Für den israelischen Ministerpräsidenten Benjamin Netanjahu zeugen die Ereignisse von einer „Brutalität, wie es sie seit dem Holocaust nicht mehr gegeben hat“. So stellte er die Lage gegenüber US-Präsident Joe Biden dar. Ein Blick auf die Ereignisse im Land.
Es sind verzweifelte Angehörige, die Kontakt suchen, die aufmerksam machen wollen auf das, was am vergangenen Wochenende in Israel passiert ist. Wie Yaniv Yakoov (46). Er ist sich sicher, dass ein Bruder und seine beiden Neffen in den Händen der Terroristen sind. Noch um kurz vor neun Uhr am Samstag habe seine Frau mit seinem Bruder Yair (59) gesprochen. Nur eine halbe Stunde später schickte die Freundin des Bruders eine Sprachnachricht. Terroristen seien im Haus, es werde geschossen. „Sie hatten sich verschanzt und versuchten, die Tür zu ihrem Bunker geschlossen zu halten.“ Nach dieser Nachricht sei der Kontakt abgebrochen. Der Bruder lebte mit seiner Freundin im Kibbuz, seine Ex-Frau wohnte mit den beiden gemeinsamen Söhnen in der Nachbarschaft. Von ihr sei später die Nachricht gekommen, Entführer hätten den 16-jährigen Neffen Or und den zwölfjährigen Yagil in der Gewalt.
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Ein Hamas-Video brachte Gewissheit: Bruder und Neffen sind Geiseln
Am Sonntag dann erreichte ihn ein Video, das ihm Gewissheit brachte: „Es zeigt das Kidnapping meines Bruders und seiner Freundin“. Sie seien aus dem Haus getrieben worden, „es sah sehr organisiert aus“. Sein Bruder sei eindeutig zu erkennen gewesen. Tatsächlich kursieren Hamas-Videos, die von der israelischen Armee in den sozialen Netzwerken geteilt werden – offenbar, um zu zeigen, wie barbarisch der Feind ist. Auf der anderen Seite wird im Land vor den äußerst brutalen Videos gewarnt.
Yaniv Yakoov ist aufgeregt. Er erzählt seine Geschichte am Telefon, schickt sie dann noch mal schriftlich zusammengefasst. Und dann erzählt er, er müsse nun zu seinem Freund, dessen Schwester den Angriff auf den Kibbuz Reim nicht überlebt habe.
Bei Dalia Fishman ist es die große Ungewissheit, die sie quält. Die 51-Jährige argentinische Staatsbürgerin hat Angst um ihre eineiige Zwillingsschwester Yasmina Bira, ihren Schwager Oron Bira (54), ein Portugiese, die beiden Söhnen Tair (22) und Tehal (15). Die Familie lebte im Kibbuz Beeri. Die kleine Ortschaft liegt nur sieben Kilometer von Gaza entfernt. Etwa 1000 Menschen zählte der Kibbitz – bis zum Überfall. Ein Video, das nicht unabhängig überprüft werden kann, zeigt, wie am vergangenen Samstag Hamas-Terroristen auf Motorrädern in den Kibbuz eindringen, wie sie schwer bewaffnet durch die Straßen ziehen – und schließlich Menschen zusammentreiben.
Jeder zehnte Bewohner des Kibbutz ist tot
Spätere Aufnahmen zeigen Leichen der Bewohner. 100 sollen es sein, so die offiziellen Zahlen. Jeder zehnte Bewohner ist demnach tot. 100 Leichen, gefunden von israelischen Soldaten. Frauen, Männer, Kinder. Die Familie von Dalia Fishman, ihre Schwester, ihr Schwager, die beiden Söhne, seien auf dem Gelände gewesen, als die Terroristen kamen, erzählt sie dieser Redaktion. „Sie drangen in ihr Haus ein“, sagt sie, das sei inzwischen klar. Doch ihre Leichen wurden bisher nicht gefunden. „Wir wissen nicht, ob sie ermordet oder entführt wurden.“
Die Welt müsse sich einschalten – in ihrer Forderung schwingt Wut mit auf Argentinien und Portugal, die Herkunftsländer der Familie. Doch auch Deutschland, Europa, die Vereinten Nationen seien in der Pflicht. Eine Forderung, die bei den Angehörigen immer wieder aufkommt. Sie wollen, dass die Welt hinsieht auf die „Verbrechen der Hamas“, wie sie sagen.
17 Kilometer entfernt vom Kibbuz Beeri, nördlich entlang der Grenze zu Gaza, liegt Kfar Aza. Als israelische Soldaten am Dienstag in die zerstörte Ortschaft kommen, schlägt ihnen die Brutalität des Angriffs vom Wochenende entgegen. Arye Shalicar spricht von einem „Pogrom“, das im Kibbuz stattgefunden habe: „So etwas haben wir bisher noch nie gesehen“, sagt der Sprecher der israelischen Armee dem Nachrichtenportal „T-Online“. Und meint die brutalen Morde an der Bevölkerung.
Man sieht die Babys, die Mütter, die Väter in ihren Schlafzimmern und Schutzräumen
Journalisten, die drei Tage nach dem Angriff die Soldaten begleiten, sprechen von Enthauptungen der Bewohner. Von toten Babys. Eine unabhängige Bestätigung steht noch aus, aber auch der israelische Generalmajor Itai Veruv bestätigt die Erzählungen: „Man sieht die Babys, die Mütter, die Väter – in ihren Schlafzimmern, in ihren Schutzräumen“, sagt er nach dem Besuch. „Es ist kein Krieg. Es ist kein Schlachtfeld. Es ist ein Massaker, es ist eine Terroraktion.“
Orly und David Schwarzmann, 66 und 67 Jahre alt, haben diese „Terroraktion“ nicht überlebt. Das Ehepaar wohnte im Kibbuz Kfar Aza, nun wurden ihre Leichen gefunden. Was ihnen genau passiert ist, weiß die Cousine von Orly Schwarzmann, Yafi Shpirer, nicht. Im Telefonat mit dieser Redaktion versagt immer wieder ihre Stimme. Nur stockend erzählt sie, wie sie versucht, angesichts der brutalen Nachrichten die Geschehnisse zu rekonstruieren. Auch sie hat die Berichte gelesen, die Bilder gesehen, von denen die Soldaten, die in Kfar Aza waren, sprechen. Da ist die Leiche unter einem grünen Tuch, unter dem ein nackter Fuß herausragt. Kopfkissen und Haushaltsgegenständen liegen verstreut in der Gegend. Viele Häuser seien zerstört, die Wände eingestürzt und verbrannt, wie auch das Tor am Eingang des Kibbuz.
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Angriff auf Israel: Vater erkennt toten Sohn auf einem Foto
Dabei geht es auch um ihren 35-jährigen Neffen Tomer Shpirer, der wie sie eigentlich in der Stadt Gedera zwischen Aschkelon und Jerusalem wohnt. Am Samstag war er in der Gegend bei Kfar Aza mit dem Auto unterwegs – auf dem Weg zu einem Fahrradrennen, an dem er teilnehmen wolle. Dort muss er auf die Hamas-Terroristen getroffen sein, die auf dem Weg zum Kibbuz waren, vermutet Yafi Shpirer. Als er nicht nach Hause kam, machte sich Tomers Vater, Yafi Shpiras Schwager, auf die Suche nach seinem Sohn. Er habe Spuren gefunden, aber nicht die Leiche. Dann habe er seinen toten Sohn auf einem Foto erkannt.
Eigentlich setzt sich Yavi Shpirer seit Jahrzehnten für ein friedliches Zusammenleben ein. ,„Ich habe immer die Rechte der palästinensischen Bevölkerung anerkannt“, sagt sie und erklärt, sie sei in verschiedenen Gruppen aktiv, um das zu fördern. „Ich verstehe, dass sie leiden“. Doch nun sei sie – neben ihrer großen Trauer – voller Wut, Enttäuschung und „großem Hass“, der sich auch gegen die Bevölkerung in Gaza richte. „Ich will nicht noch mehr Blut“, sagt sie und macht eine lange Pause. Aber die Hamas sei von der Bevölkerung gewählt worden. „Nun muss die Bevölkerung mit den Konsequenzen leben.“ Nur die Nazis, habe sie gedacht, seien zu solchen Taten fähig gewesen. Und nun seien ihre toten Verwandten – Kinder von Holocaust-Überlebenden – ebenso brutal getötet worden wie ihre Vorfahren.