Netanja. Als er zwölf war, zerrten SS-Männer Zvi Cohen aus seinem Bett in Berlin. Mit dem Hamas-Terror ist sein Trauma wieder aufgebrochen.
Als Zvi Cohen am 7. Oktober die Bilder sieht und die Nachrichten hört, fühlt er sich an die schlimmste Zeit seines Lebens erinnert. Hamas-Terroristen dringen in die Kibbuze nahe dem Gazastreifen ein, ermorden Jüdinnen und Juden, verschleppen sie, hämmern an ihre Türen. Vor achtzig Jahren haben in Berlin Männer an die Tür der Dachgeschosswohnung gehämmert, in der Zvi Cohen mit seiner Familie lebte. Damals hieß er Horst Cohn. Die Männer waren SS-Leute.
Der Kibbuz Ma´abbarot bei Netanja im Herzen Israels ist ein friedlicher und ruhiger Ort. Es riecht nach Blumen, Vögel zwitschern, die Blätter alter Bäume rauschen im Wind, zwischen gepflegten Rasenflächen liegen kleine, cremefarbene Häuser. Vor dem Gemeinschaftssaal hängen drei Fahnen auf halbmast. Ma´abbarot ist einer der ältesten Kibbuze im Land, gegründet wurde er vor neunzig Jahren von Anhängern der zionistisch-sozialistischen Hashomer-Hatzair-Bewegung. Zvi Cohen lebt hier seit 78 Jahren. Er hat als Kind den Holocaust überlebt.
Cohen sitzt am Küchentisch seines Hauses, an der Wand gegenüber hängen die Bilder seiner Familie. Der 92-Jährige hat vier Kinder, sechs Enkel und vier Urenkel. Ohne seine Mundharmonika gebe es diese Menschen nicht, ist der alte Mann überzeugt. Das alte, kleine Instrument ist sein größter Schatz, er bewahrt es in einer Schachtel in seinem Schreibtisch auf. Er hat vor achtzig Jahren gelernt, das Instrument zu spielen. Zu einer Zeit, in der jüdische Kinder in Berlin zum Spielen nicht vor die Tür gehen konnten.
Die SS-Männer sind vom Spiel der Mundharmonika gerührt
Der junge Horst Cohn hat viel Zeit, seine Eltern sind zu Zwangsarbeiten eingezogen. Er hört aus der Nachbarwohnung die Nachrichten aus dem Volksempfänger, bringt sich selbst die Lieder bei, die bei den deutschen Soldaten beliebt sind. „Ich hatt´ einen Kameraden“ oder „Lili Marleen“. Am 7. Mai 1943 hört er schwere Stiefel das Treppenhaus herauf poltern. Die beiden Männer, die an die Tür pochen, tragen den Totenkopf an ihren Mützen. „Pack deine Sachen“, herrschen sie ihn an. Sie wollen ihn allein mitnehmen. Er hat furchtbare Angst. Er fängt an, auf seiner Mundharmonika zu spielen.
Die beiden Männer sind gerührt, als sie die Lieder hören. Der Junge überredet sie, seine Eltern anrufen zu dürfen. Als die beiden nach Hause kommen, werden sie gemeinsam in das Konzentrationslager Theresienstadt im heutigen Tschechien gebracht. Die Nazis stellen Theresienstadt in ihrer Propaganda als „jüdische Mustersiedlung“ mit guten Lebensbedingungen dar. Tatsächlich sterben hier rund 35.000 Menschen. „Der Hunger war nicht auszuhalten“, erinnert sich der alte Mann.
Jüdische Insassen müssen in Theresienstadt Listen zusammenstellen. Wer auf den Listen steht, wird in Vernichtungslager abtransportiert. Die Cohns haben Glück. Sie überleben und werden im Februar 1945 mit dem Zug in die Schweiz gebracht. Vorher muss der junge Cohn zusammen mit anderen Lager-Insassen die Asche der Verhungerten in der Eger entsorgen. Sie wird in einer Halle in kleinen braunen Pappschachteln aufbewahrt, fein säuberlich gestapelt und akkurat beschriftet.
Die Namen der Großeltern stehen auf den Pappschachteln, in denen die Asche der Toten ist
Auf zwei dieser Pappschachteln liest der Junge die Namen seiner Großeltern. Gustav Heller, Oberfeldwebel im Ersten Weltkrieg, ausgezeichnet mit dem Eisernen Kreuz 1. Klasse, und seine Frau Ettel. Replika dieser Pappschachteln stehen heute in dem Schrank im Wohnzimmer des Hauses im Kibbuz Ma´abbarot, in dem Zvi Cohen auf fließendem Deutsch seine Geschichte erzählt.
Seinen Namen hat er nach seiner Ankunft in Israel geändert. Er kämpft im Sechstage-Krieg und im Jom-Kippur-Krieg, in dem Israel vor genau fünfzig Jahren von einer ägyptisch-syrischen Offensive völlig überrascht wurde. „Jetzt sind wir wieder mit heruntergelassener Hose erwischt worden.“ Cohen lächelt kurz, als er die deutsche Phrase benutzt. Dann gefriert sein Lächeln. „Ich weiß nicht, wie uns das passieren konnte“, sagt er und wirkt so hilf- wie ratlos.
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Vielleicht, glaubt er, sei die politische Spaltung des Landes Schuld gewesen. Der alte Mann sieht Parallelen in der jüdischen Geschichte: „Der erste Tempel fiel wegen der Uneinigkeit der Juden. Der zweite Tempel fiel auch deswegen.“ Es sind Vergleiche, die zeigen, wie sehr ihn und das ganze Land die mörderische Terror-Attacke der Hamas mit mindestens 1400 Opfern und die Erkenntnis der eigenen Verletzbarkeit schockiert hat. Die beste Freundin seiner Enkelin, Noy Aviv, ist unter den Toten. Sie war auf dem Nova-Festival, wo die Terroristen rund 260 Menschen ermordeten. „Sie haben sie geschändet und verbrannt“, sagt Cohen, seine Stimme zittert. Noy Aviv wurde 27 Jahre alt.
Juden massakriert, als Geiseln, auf der Flucht: Für den Holocaust-Überlebenden ist das unerträglich
In Ma´abbarot haben sie etwa hundert Flüchtlinge aufgenommen. Menschen aus dem Süden, die das Massaker überlebt haben oder in Städten wie Aschkelon leben, in denen der Luftalarm kaum Pause machen kann. Menschen aus dem Norden nahe der libanesischen Grenze, wo die Regierung mehr als zwei Dutzend Städte hat evakuieren lassen, weil die Hisbollah die Gegend immer wieder beschießt. Juden auf der Flucht. Juden als Geiseln. Juden, die massakriert wurden. Für Zvi Cohen ist das unerträglich.
Der so bemühte Schwur „Nie wieder“ habe seinen Sinn verloren, sagt der alte Mann. „Es ist wieder geschehen. Sie haben ganze Familien ausgerottet. Ausgerottet!“ Er schlägt mit der flachen Hand auf den Tisch. Die „bestialische Unmenschlichkeit“ des Vorgehens der Terroristen erinnere ihn an das Vorgehen der Nazis. Das Trauma, das ihn sein Leben lang begleitet hat, ist noch einmal brutal aufgebrochen – als habe ihn das erfahrene Grauen in die Heimat verfolgt.
Der 92-Jährige sagt, er sei voller Trauer, voller Empörung, Wut und Angst. „Die Araber wollen uns hier nicht“, ist er überzeugt. In Kairo, in Bagdad, in Damaskus
, um gegen Israel zu demonstrieren. „Uns bleibt nur ein Weg, den sie akzeptieren – ins Meer.“
„Als Opfer werden wir anerkannt. Wenn wir uns wehren, ist das nicht koscher“
Cohen sagt auch, er wisse um die Verhältnisse in Deutschland, dass so viele Deutsche rechtsextrem wählten, dass so viele Sympathien für die Hamas zeigten. Es erschüttert ihn. Er war nach der Öffnung der Mauer oft in Deutschland, die ersten Male fiel es ihm schwer, dann wurde es leichter. Er hat in Schulen seine Geschichte erzählt, immer in der Hoffnung, es werde besser. Aber er weiß, dass Israel nach dem Beginn der Angriffe auf den Gazastreifen wieder in der Kritik steht. Er lächelt müde. „Als Opfer werden wir anerkannt. Wenn wir uns wehren, ist das nicht koscher.“
Dann nestelt er seine alte Mundharmonika aus der Schatulle. Er atmet kurz durch und spielt „Ich hatt‘ einen Kameraden“. Laut und trotzig.
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