Berlin. Die Fronten im Ukraine-Krieg sind erstarrt. Russland macht Druck, Kiew sucht eine neue Strategie. Die Szenarien im dritten Kriegsjahr.

Das neue Jahr lässt sich für die Ukraine furchtbar an. Landesweit: Luftangriffe. Russland feuert sogar die hochmodernen Raketen des Typs Kinschal ab, die schnell, präzise und schwer abzufangen sind; und eigentlich selten eingesetzt werden, da sie nicht in großen Mengen vorliegen. Sucht Russland die Entscheidung? Was sind die Szenarien im bald dritten Jahr im Ukraine-Krieg? Am wahrscheinlichsten ist ein Stellungskrieg, ein opferreiches Weiter-So. Für Offensivaktionen scheint Russland mehr Optionen als die Ukraine zu haben. So viel zu den Siegesszenarien. Frieden, Verhandlungen, ein Kompromiss – das ist 2024 das unwahrscheinlichste Szenario.

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Die Gegenoffensive hat sich festgefahren. Präsident Wolodymyr Selenskyj sucht notgedrungen nach einer neuen Strategie. 2024 wird wieder stärker im Zeichen der Verteidigung stehen. „Es wird höchstwahrscheinlich keinen tiefen und schönen Durchbruch geben“, verkündete der Oberkommandierende Walerij Saluschnyj in einem aufsehenerregenden Artikel im „Economist“ . Aufsehenerregend illusionslos.

Im Ukraine-Krieg gibt es für Selenskyj im Grunde nur ein Szenario: durchhalten. Die Amerikaner– stets für eine griffige Formel gut – empfehlen ihm eine Strategie des „Halten und Aufbauen“ („Hold and build“). Die „Washington Post“ formuliert es nüchtern: Die Ukrainer sollen sich eingraben, das Territorium halten, Reserven aufbauen. Zwischen den Feiertagen kündigte die Armee an, bis zu einer halben Million neuer Soldaten einzuziehen. Das war nicht zuletzt ein Signal an Kremlchef Wladimir Putin: Wir halten durch.

Russen haben ihre Ausgangslage verbessert

Nachdem vereinzelt Kritik an westlichen Waffen, an Ratschlägen und Ausbildung (nicht gefechtsnah) laut geworden war, setzen die USA ein Zeichen: Ein hoher Militär, Generalleutnant Antonio Aguto, soll näherrücken, sich 2024 für längere Zeiträume in Kiew aufhalten. Bisher koordinierte er die Militärhilfe für die Ukraine – zumeist von Wiesbaden aus.

Klar ist, Russland geht mit hohem Selbstvertrauen in das bald dritte Kriegsjahr. Laut „Washington Post“ geht auch das Pentagon davon aus, dass Moskau 2024 über mehr Truppen, Munition und Raketen verfügt und mit seinen Drohnen, viele aus dem Iran, seinen Feuerkraftvorteil ausgebaut hat.

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Als Gegenreaktion hat Selenskyj in seiner Neujahrsansprache von der Schlagkraft der „heimischen“ Waffenproduktion geschwärmt. Die Ukraine werde mindestens „eine Million“ zusätzliche Drohnen in ihrem Arsenal haben. Anders als Saluschny ist er ein Politiker. Dieselben Realitäten muss er hoffnungsvoller deuten.

Zu den harten Wahrheiten gehört, dass die Ukraine mit einem knapperen Budget kämpfen und ihre Fähigkeiten zur Waffenproduktion ausbauen muss. Die USA legen ihr eine „Strategie der Selbstversorgung“ nahe.

Am Frontverlauf hat sich wenig geändert

Zum einen werden weitere US-Hilfen im Kongress in Washington innenpolitisch blockiert. Zum anderen hatte die EU eine Million Artilleriegranaten in Aussicht gestellt – geliefert wurde bislang nicht einmal die Hälfte. Der Munitionsmangel ist nach wie vor ein Problem.

Der ukrainische Präsident Wolodymyr Selenskyj wirkt nachdenklicher denn je.
Der ukrainische Präsident Wolodymyr Selenskyj wirkt nachdenklicher denn je. © DPA Images | Efrem Lukatsky

Im Wissen darum greifen die Russen Waffenfabriken und Depots sowie transportrelevante Bahnlinien an. Die Ukraine hat nicht die Mittel, um genauso vorzugehen. Ihr fehlen Raketen oder Marschflugkörper mit längerer Reichweite, Waffen wie das deutsche Taurus-System oder die amerikanische Atacms-Rakete, die sie offenbar nur in einer Version (165 Kilometer) mit kürzerer Reichweite erhält.

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Vermutlich wird Russland 2024 auf dem Schlachtfeld die Entscheidung suchen. Putin hat keinen Grund, sich auf Kompromisse einzulassen. Er kann hoffen, dass Donald Trump im November die US-Wahlen gewinnt und nach dem Einzug ins Weiße Haus im Folgejahr die Unterstützung für die Ukraine erst recht zurückfährt oder gar einstellt. Das dürfte zumindest Putins Szenario sein.

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„Dieser Krieg wird noch länger dauern“, sagte der frühere Spitzendiplomat Wolfgang Ischinger beim Nachrichtenportal „T-Online“ voraus. Dabei blendet er schon das Worst-Case-Szenario aus, den Zusammenbruch der Ukraine, und setzt im Grunde voraus, dass sie durchhält und 2025 in den USA jemand zum Zuge kommt, der wie der amtierende Präsident Joe Biden sagt, „wir können Putin nicht gewinnen lassen“.

Kriegen die Russen die ukrainische Wut zu spüren

„Das größte Risiko eines Abnutzungskriegs ist“, erläutert Saluschnyj., „dass er sich jahrelang hinziehen kann“. Schon 2023 hat sich die Front ungeachtet eines ukrainischen Coups im Süden eher unwesentlich verschoben, die Russen haben 200 bis 300 Quadratkilometer hinzugewonnen, nicht mehr.

Bezahlt wurden diese Bodengewinne mit enormen Verlusten auf beiden Seiten. Bei den Russen waren sie teilweise so groß, dass der Militärökonom Marcus Keupp von der Eidgenössischen Technischen Hochschule Zürich bezweifelt, dass Russland überhaupt noch in die Offensive kommen kann. Russland habe bald 10.000 schwere Waffensysteme und Panzer verloren, so Keupp. „Das ist eigentlich nur eine Frage der Zeit, bis ihnen die Reserven ausgehen“, analysierte er im ZDF.

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Hoffnung macht der Ukraine auch, dass sie im neuen Jahr die ersten von westlichen Partnern gelieferten F-16-Kampfjets bekommen wird, nachdem die Ausbildung der Piloten weit fortgeschritten ist. „Wir werden sie auf jeden Fall an unserem Himmel sehen“, verspricht Selenskyj. Zu Beginn des Krieges Ende Februar 2022 verfügte die Ukraine laut Saluschnyj über 120 Kampfflugzeuge, von denen wiederum nur ein Drittel einsatzfähig war.

Die Lufthoheit bleibt indes ein Wunschbild, solange die russische Abwehr so stark ist. Aus Angst, Flugzeuge zu verlieren, setzt die Ukraine zur Aufklärung fast nur Drohnen ein. „Die Ukraine muss massive Angriffe mit Täuschungs- und Angriffsdrohnen durchführen, um die russischen Luftverteidigungssysteme zu überlasten“, sagt Saluschnyj.

Auf der Suche nach einer neuen Strategie: Ukraines Armeechef Waleryj Saluschnyj.
Auf der Suche nach einer neuen Strategie: Ukraines Armeechef Waleryj Saluschnyj. © DPA Images | ---

Das ist exakt das, was die Russen umgekehrt jeden Tag vorführen: Die Fliegerabwehrsysteme aus dem Westen werden „übersättigt“. Die Ukrainer werden Tag für Tag gezwungen, Patriot- und IRIS-T-Systeme und Gepard-Panzer einzusetzen. So geht viel Munition verloren und manchmal auch ganze Abwehrsysteme. Im neuen Jahr will sich die Ukraine darauf konzentrieren, die elektronische Kriegsführung zu verbessern, also das Stören von Kommunikations- und Navigationssignalen, eine Schlüsselkompetenz gegen den russischen Drohnenkrieg.

Für die Ausbildung neuer Soldaten haben die Ukrainer notgedrungen einen Ausweg gefunden. Weil Russland gezielt Ausbildungszentren angreift, wird das Training wohl zunehmend ins Ausland verlagert. Gleiches gilt auch für Reparaturen. „Leider ist festzustellen, dass nur noch eine sehr geringe Zahl der gelieferten Kampfpanzer von der Ukraine eingesetzt werden kann“, hält der Grünen-Haushaltspolitiker Sebastian Schäfer in einem Brief an die Rüstungsunternehmen Rheinmetall und Krauss-Maffei Wegmann (KMW) fest. Von den aus Deutschland gelieferten modernen Kampfpanzern Leopard 2A6 stehen nur noch sehr wenige im Abwehrkampf gegen Russland zur Verfügung. Der Verschleiß ist enorm, die Instandsetzung nach dem Fronteinsatz erfordert mehr Zeit als angenommen.

Und so bleibt die Lage der Ukraine sehr kritisch. Realist Saluschny weiß, dass ein Stellungskrieg „mit enormen Risiken“ für die ukrainischen Streitkräfte verbunden sei. „Nächstes Jahr wird der Feind die ukrainische Wut spüren“, verspricht Selenskyj. Aber es ist längst ausgemacht, welche Kriegspartei die Wut am stärksten zu spüren bekommen wird.

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