Kiew. Sie sind die beliebtesten politischen Akteure der Ukraine, ihre Ämter eng miteinander verstrickt. Das steckt hinter den Spannungen.
Ein halbes Jahr vor Beginn der russischen Invasion im Februar 2022 traf der Präsident Wolodymyr Selenskyj eine seiner wichtigsten Personalentscheidungen: In einer Zeit, in der die damaligen Verteidigungsminister und Befehlshaber der Armee in einem offenen und für das Land schädlichen Konflikt standen, rief er im Juli 2021 General Walerij Saluschnyj an, um ihm die Position des Befehlshabers anzubieten.
Es war Abend, und Saluschnyj trank gerade Bier beim Geburtstag seiner Frau – auf den Anruf reagierte er erschrocken. Anfang des Jahres waren erste russische Truppen an der ukrainischen Grenze aufmarschiert. Dass es einen größeren Krieg geben könnte, war ihm bereits bewusst. Die Verantwortung nahm der heutige 50-Jährige trotzdem an.
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Mehr als 20 schwierige Kriegsmonate haben Selenskyj und Saluschnyj bereits durchgemacht. Sie sind mit großem Abstand die beliebtesten politischen Persönlichkeiten der Ukraine und sprechen seit fast zwei Jahren regelmäßig miteinander, oft mehrmals am Tag. Doch inzwischen gibt es anhaltende Gerüchte, dass es zwischen dem Präsidenten und dem Befehlshaber der Armee verstärkt zu Meinungsverschiedenheiten kommt. So haben etwa US-Medien mit Verweis auf anonyme Quellen unter anderem über unterschiedliche Sichtweisen auf die Notwendigkeit der Bachmut-Verteidigung spekuliert.
Nach Saluschnyjs Essay: Debatte um möglichen Konflikt ist neu entbrannt
Anfang November 2023 veröffentlichte Saluschnyj im „The Economist“ einen offensichtlich nicht mit der Präsidialverwaltung abgestimmten Essay. Dort schlug er Lösungen vor, um dem drohenden und für Kiew gefährlich langen Stellungskrieg aus dem Weg zu gehen, woraufhin die Debatte über den möglichen Konflikt zwischen Selenskyj und Saluschnyj neu entbrannte.
Selenskyj selbst hat als Reaktion zwar lediglich bestritten, dass er in der aktuellen Situation an der Front ein Patt sehe. Doch dafür äußerte sich der für internationale Beziehungen zuständige stellvertretende Chef des Präsidentenbüros, Ihor Schowkwa, im ukrainischen Fernsehen deutlicher. „Ich werde panisch gefragt: Was soll ich denn meinem Chef sagen? Seid ihr wirklich in einer Sackgasse?“, berichtete er von einem Anruf aus dem Regierungskabinett. „Als Militär wäre die Kommentierung der Lage an der Front und der dortigen Optionen das Letzte, was ich tun würde.“
Inzwischen haben sowohl Schowkwa als auch weitere Mitarbeiter der Präsidialverwaltung gegenüber Bloomberg betont, es gäbe keinen Konflikt zwischen Selenskyj und Saluschnyj. Dass möglicherweise doch Spannungen existieren, zeigt aber auch noch ein anderes Geschehen: die kürzliche Entlassung des Kommandeurs der ukrainischen Spezialkräfte, Wiktor Chorenko. Er soll eigenen Worten zufolge aus den Medien davon erfahren haben. Chorenko betont, dass Saluschnyj ihm keine Gründe für seine Entlassung habe nennen können und dass dieser von der Entscheidung wohl selbst im Voraus nichts gewusst habe.
Knackpunkt: Entlassung Wiktor Chorenkos
Rechtlich gesehen ist die Entlassung korrekt gelaufen. Die Kommandeure dieses Kalibers werden in der Ukraine nach dem formellen Vorschlag des Verteidigungsministers vom Präsidenten ernannt oder entlassen. Nicht alle haben es allerdings als gut empfunden, dass Chorenkos faktischer Chef Saluschnyj in die Entscheidung offenbar nicht eingebunden worden war.
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„Wir haben im Ausschuss darüber diskutiert und waren über die gesamte Angelegenheit nicht einig“, so Serhij Rachmaninow, Mitglied im Verteidigungsausschuss des Parlaments, im ukrainischen Radio. „Meine persönliche Meinung ist, dass es keine Entlassungsgründe gab und dass Chorenko besser als sein Vorgänger in der Position arbeitete.“
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„Gewisse Eifersucht gegenüber Saluschnyj gibt es bei einigen in der Präsidialverwaltung schon.“ Es würde aber zu weit gehen, von einer Spaltung zwischen Selenskyj und Saluschnyj zu sprechen. „Im Kern sehen sie die Situation gleich“, kommentiert der bekannte Politologe Wolodymyr Fessenko, der dem Präsidententeam nahesteht. Bei der Debatte um Saluschnyjs Essay, den Fessenko als „konstruktiv“ lobt, ginge es mehr um „stilistische Fragen“: „Es gibt den Wunsch, mit einer gemeinsamen, besser abgestimmten Stimme nach außen aufzutreten.“
Das unterscheidet die beiden beliebten Ukrainer
Doch woher kann die angesprochene Eifersucht kommen? Selenskyjs Vertrauenswerte mögen zwar seit dem Allzeithoch kurz nach Kriegsbeginn etwas gefallen sein, die absolute Mehrheit der Ukrainer unterstützt ihn jedoch unverändert. In patriotischen und nationalliberalen Kreisen wird der ursprünglich russischsprachige Präsident, der eine Neujahrsgala im russischen Staatsfernsehen noch 2,5 Monate vor der Krim-Annexion 2014 moderiert hatte, aber kategorisch abgelehnt. Der ruhige und menschlich wirkende General Saluschnyj, der zudem gerne lustige T-Shirts oder Jacken vom Fußballverein Dynamo Kiew trägt und sich generell wie ein einfacher Kerl aus der ukrainischen Provinz präsentiert, hat ausnahmslos die Sympathien der gesamten Gesellschaft.
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Das hat primär damit zu tun, dass Saluschnyj für die Menschen abgesehen von seinen Erfolgen als Befehlshaber eher eine mythologische Figur ist. Über seine Person und mögliche politische Ansichten ist wenig bekannt. Er konzentriert sich komplett auf den Krieg und verzichtet vollkommen auf Äußerungen mit politischen Ambitionen, über die gerne spekuliert wird. Klar ist aber, dass seine enorme Beliebtheit zumindest theoretisch ein großes politisches Kapital darstellt und dass diese Tatsache unterschiedliche Gefühle bei den amtierenden Politikern auslöst.
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