Kiew. Die Welt schaut auf die umkämpfte Stadt Awdijiwka, doch unterm Radar versucht Kiew woanders die Überraschung – und könnte Erfolg haben.
Die große ukrainische Offensive im südlichen Saporischschja scheint – Stand jetzt – zu Ende zu gehen, ohne dass bedeutende strategische Ziele erreicht wurden. Stattdessen konzentrieren sich die härtesten Kämpfe auf die östliche Region Donezk. Dort versuchen die Russen unter hohen Verlusten, die für die ukrainische Verteidigung wichtige Stadt Awdijiwka einzunehmen. Aber auch die Ukrainer werden in der Gegend aktiver: Nahe der Stadt Horliwka nordöstlich von Andrijiwka konnten sie einige Gebiete befreien, die seit 2014 mit Beginn des Donbass-Krieges nicht mehr unter Kontrolle der Regierung in Kiew standen.
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Doch es gibt noch eine andere Front im Süden, über deren Ziel zwar stets im Hintergrund diskutiert wurde, das aber als zu riskant galt, um erreicht werden zu können. Im November 2022 hatte die ukrainische Armee nach monatelangen Kämpfen um Cherson nicht nur die Stadt, sondern auch den westlicheren Teil des gleichnamigen Regierungsbezirks befreit – neben dem Sieg in der Schlacht um Kiew und der Offensive in der Region Charkiw eine der wichtigsten Errungenschaften im Krieg. Das östliche Ufer am Fluss Dnipro blieb allerdings unter russischer Besatzung. Es ebenfalls zu befreien, galt wegen der Breite des Flusses als schwierig. Die Möglichkeit amphibischer Landungsversuche durch die Ukrainer wurde eher mit Skepsis betrachtet.
Trotzdem sind ukrainische Soldaten der Marineinfanterie in Vorbereitung auf solche Operationen vom Westen ausgebildet worden – vor allem von Großbritannien. Erste erfolgreiche Versuche von ukrainischen Sabotage- und Aufklärungsgruppen des ukrainischen Militärgeheimdienstes, das östliche Dnipro-Ufer zu erreichen, gab es schon im Verlauf dieses Jahres. Bei diesen Landungsversuchen ging es aber nicht in erster Linie darum, sich dort festzusetzen: Vielmehr sollten die Russen daran gewöhnt werden, dass ukrainische Sabotagetruppen in der Gegend permanent aktiv sind.
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Ukraine errichtete an Dnipro einen neuen Brückenkopf
Wozu all das notwendig war, zeigte sich im August, als ukrainischen Marineinfanteristen offenbar eine Überraschung gelang: Weil die Russen deren Aktivitäten am Dnipro-Ufer nicht mehr viel Bedeutung beimaßen, konnten diese einen Brückenkopf an der östlichen Flussseite errichten. Auf russischen Telegram-Kanälen war die Situation die gesamte Zeit über als gefährlich eingestuft worden, die Ukraine hatte über ihre Aktivitäten im Bezirk Cherson über Monate geschwiegen. Erst vor wenigen Wochen gab es dann erste Aussagen auf politischer Ebene – und die offizielle Bestätigung ließ sogar bis zum 17. November auf sich warten.
„Die Informationsstille war ein Grund dafür, dass die Aufgaben erfolgreich erfüllt werden konnten“, erklärte Serhij Bratschuk, einer der ukrainischen Armeesprecher. Offensichtlich gelten die ukrainischen Aufmarschgebiete nun als sicher genug: Die Präsenz der Armee dürfte dort längerfristig anhalten – etwa um das Dorf Krynky herum, das zwei Kilometer vom Fluss Dnipro entfernt ist, aber auch um zwei weitere ukrainisch kontrollierte Brückenköpfe. Unklar ist noch, was die ukrainische Armee damit bezweckt.
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Allem Anschein nach will die Militärführung aus den aktuellen taktischen Aufmarschgebieten in Zukunft einen größeren operativen Brückenkopf errichten, der theoretisch sogar für bedeutendere Bewegungen in Richtung der hundert Kilometer entfernten Krim-Halbinsel genutzt werden könnte. Doch zunächst fallen die Ziele bescheidener aus: Einerseits geht es darum, die russische Artillerie zurückzudrängen, damit die seit der Befreiung ständig unter Beschuss stehende Stadt Cherson sicherer wird. Andererseits zielen die Ukrainer darauf ab, mit den Angriffen russische Truppen von anderen Teilen der Front abzulenken.
Russlands Militär wurde überrascht vom ukrainischen Vorstoß
Und drittens: „Zu unseren Zielen gehört auch die Störung der logistischen Wege des Feindes“, erklärte Bratschuk, ohne aber ins Detail zu gehen. Die Versorgungswege von der Krim aus unter Druck zu setzen, gelingt nach Angaben der russischen Besatzungsverwaltungen schon jetzt. So wird offen davon gesprochen, dass eine wichtige Straße in Richtung der Schlüsselstadt Nowa Kachowka aktuell nicht mehr nutzbar ist. „Wir müssen einen großen Umweg machen, um Munition und Personal zu liefern“, gibt Vertreter der Besatzungsverwaltung des Nachbarbezirks Saporischschja Wladimir Rogow zu – und das mitten im Winter.
Inzwischen antwortet die russische Armee nach Informationen der „New York Times“ mit Bombardements der ukrainischen Stellungen aus der Luft und thermobarischen Artillleriesystemen – darunter das TOS-1A, das wegen seiner verheerenden Wirkung auch „flammende Sonne“ genannt wird. Personell ist die Lage für die Ukrainer nicht weniger herausfordernd. Während auf der ukrainisch kontrollierten Seite des Flusses rund 1000 Marineinfanteristen im Einsatz sind, stehen am östlichen Dnipro-Ufer insgesamt mehrere Zentausend russische Soldaten.
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„Ich würde vorerst keine eindeutigen Schlüsse ziehen, ob es strategisch gesehen ein Ablenkungsmanöver oder die Vorbereitung einer großen überraschenden Offensivoperation ist“, erklärte Oleksij Melnyk von der renommierten Denkfabrik Zentr Rasumkowa. Dem „NYT“-Bericht zufolge nähern sich ukrainische Truppen einer wichtigen Autobahn zwischen Melitopol und der Krim, über die Nachschub an die Front geschafft wird. Experten vom Institut für Kriegsstudien, einer in den USA ansässigen Denkfabrik, gehen davon aus, dass Russlands Militär „wahrscheinlich Schwierigkeiten haben wird, kampfwirksame Verstärkung in das Gebiet zu holen.“
Schon jetzt sind die Verluste für Russland enorm: US-Geheimdienste gehen davon aus, dass seit Beginn des Ukraine-Krieges im Februar 2022 rund 315.000 russische Soldaten verletzt oder getötet wurden. Aus Parlamentskreisen in Washington verlautete am Dienstag unter Berufung auf freigegebene Dokumente, dies entspreche 87 Prozent der vor dem Krieg 360.000 Soldaten zählenden Streitkräfte. Die russische Armee habe überdies 2200 ihrer vor Kriegsbeginn 3500 Panzer verloren.