Jerusalem. Der ehemalige Chef der Palästinenser-Hilfe in Gaza erklärt, warum er Gaza verlassen musste und wie er Israelis Vorgehen bewertet.
Matthias Schmale war von 2017 bis 2021 Leiter der UNRWA in Gaza, dem Hilfswerk der Vereinten Nationen für Palästina-Flüchtlinge im Nahen Osten. Auf Druck der Hamas musste Schmale Gaza vor zwei Jahren verlassen. Er erklärt, warum er palästinensische Angaben über Todesopfer für verlässlich erachtet. Den Vorwurf, dass UN-Hilfslieferungen von der Hamas abgezweigt würden, hält er für Unfug.
Israel hat nun zugestimmt, dass eine begrenzte Menge an Treibstoff an die UNO in Gaza geliefert werden darf – allerdings nicht an Krankenhäuser. Man hat Angst, dass er in die Hände der Hamas geraten könnte. Verstehen Sie das?
Matthias Schmale: Eigentlich nicht. In meinen fast vier Jahren im Gazastreifen hatten wir sehr klare Abkommen mit den Israelis über das, was wir in Gaza eingebracht haben – Baumaterial für Schulen etwa. Sie hatten Ingenieure, die genau berechnet haben, ob die Mengenangaben an Zement oder Treibstoff richtig sind für den Zweck, den wir angegeben haben. Zwar ist der Vorwurf auch damals hochgekommen – aber interessanterweise weniger von unseren direkten israelischen Partnern. Die haben uns vertraut, dass das zweckgemäß verwendet wurde.
Wie war es dann möglich, das Tunnelsystem der Hamas zu bauen, wenn da nichts abgezweigt wurde?
Schmale: Die Frage verstehe ich. Ein Teil des Tunnelsystems soll schon vor Hamas-Zeiten bestanden haben, aber bestimmt nicht in diesem Ausmaß. Mir ist es ehrlich gesagt bis heute schleierhaft, wie es möglich war, Material für Tunnelbau, aber auch diese vielen Raketen reinzubringen. Es ist aber Unfug, der UNO vorzuwerfen, dass sie daran beteiligt war. Unsere Projekte wurden ja kontrolliert. Diplomaten waren da und haben überprüft, ob wir mit dem Zement Schulen gebaut haben – oder Tunnel.
Sie kennen das Al-Shifa-Krankenhaus gut. Kannten Sie die Vorwürfe, dass sich im Untergrund Hamas-Infrastruktur befindet?
Schmale: Ja. Die Hamas hat sich die sichersten Einrichtungen ausgesucht – dazu gehören auch Krankenhäuser. In meiner Zeit haben wir auch unter unseren Schulen zweimal Tunnel entdeckt. Das war einer der wenigen Fälle, wo ich mich direkt eingemischt und Hamas-Leute getroffen habe. In einem Fall haben die es erstmal abgestritten. Ich hab gesagt, wenn Sie es nicht glauben, dann gehen wir da jetzt zusammen hin. Wir haben die Tunnel dann mit Flüssigzement zugemacht.
Wie verlief die Kommunikation mit der Hamas?
Schmale: Ich hatte strikte Anweisungen, mich mit keinen Hamas-Führungsleuten zu treffen. Aber die Hamas hat natürlich eine Verwaltung im Gazastreifen und unsere Leute mussten mit denen verhandeln, wenn wir Schulen bauen wollten – so wie überall auf der Welt.
Verstehen Sie den Vorwurf an die UNRWA, dass man in Gaza gemeinsame Sache mit Terroristen macht, weil es direkte Kontakte mit der Hamas gibt?
Schmale: Ja (seufzt). Ich war früher beim Roten Kreuz und auch in Afghanistan, als die Taliban das erste Mal an der Macht waren. Da gab es diese Diskussion auch. Man kann aber humanitäre Hilfe nicht leisten, ohne mit den Leuten vor Ort pragmatische Abstimmungen zu treffen. Und ich habe immer betont: Sich abzustimmen heißt nicht zustimmen, schon gar nicht ideologisch. Man kann nichts von dem rechtfertigen, was die Hamas am 7. Oktober gemacht hat.
Wie ging es Ihnen am 7. Oktober?
Schmale: Ich hätte mir dieses Ausmaß nie vorstellen können. Ich war auch in Kontakt mit Leuten in Gaza, die überhaupt nichts mit der Hamas zu tun haben, und sie sagten erstmal so etwas wie: Haha, Israel ist also verwundbar. Das hielt aber vielleicht ein, zwei Stunden an, und je mehr das Ausmaß der Gräuel bekannt wurde, war dann auch bei denen klar: Das ist ungeheuerlich, das ist schrecklich für die Israelis – aber auch für uns kann das nur katastrophale Folgen haben.
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Im Jahr 2021 haben Sie die israelischen Luftschläge als „präzise“ bezeichnet, worauf Sie von der Hamas bedroht wurden. Sehen Sie diese Präzision auch heute noch?
Schmale: Ich habe das damals so erlebt, dass die Schläge präzise waren, aber in diesem Krieg würde ich das nicht mehr so sehen. Das Ausmaß der Zerstörung, die Zahl der Toten, der toten Kinder – für mich sieht das mehr nach kollektiver Bestrafung aus.
Das ist ein schwerer Vorwurf. Worauf stützen Sie ihn?
Schmale: Ist es nicht kollektive Bestrafung, wenn man eine gesamte Bevölkerung von der Außenwelt abriegelt und ihr Nahrung und Trinkwasser vorenthält? Dazu kommen die Zahlen. In den elf Tagen 2021 sind 250 Zivilisten umgekommen, darunter 60 Kinder. Jetzt waren es im gleichen Zeitraum 2000 Tote, und 500 Kinder.
Die Opferzahlen stammen von Hamas-kontrollierten Behörden. Kann man ihnen trauen?
Schmale: Die Fragen gab es immer, wir waren da auch immer skeptisch. In dem Moment, wo wir es im Nachhinein überprüfen konnten, haben sich die Angaben aber als recht verlässlich erwiesen. Die Zahlen werden ja von den Mitarbeitern der Krankenhäuser ans Gesundheitsministerium gemeldet. Die Mehrheit der Mitarbeiter dort sind keine Hamas-Anhänger, die machen einfach ihre Arbeit. Es würde mich überraschen, wenn nach dem Krieg rauskommt, dass die Zahlen weit daneben liegen.
Die hohe Zahl ziviler Opfer liegt auch darin begründet, dass sich die Hamas hinter zivilen Zielen verschanzt.
Schmale: Ich bin kein Militärexperte, ich kann das nicht beurteilen. Natürlich kann man sagen: Es ist Krieg, und in Kriegen kommen Leute um. Aber unsere Haltung ist, dass auch Kriege Regeln haben. Mein Eindruck ist, dass diese Regeln nicht immer so respektiert werden, wie man das erwarten muss von einem demokratischen Staat wie Israel.
Aus Ihrer Erfahrung in Gaza: Wie stark ist der Rückhalt der Hamas in der Zivilbevölkerung?
Schmale: Mein Eindruck war, basierend auf vielen Gesprächen, dass die Zustimmung damals sehr stark zurückgegangen ist. Dieser Zynismus, dass die Hamas-Führung im Ausland lebt und es sich dort sehr gut gehen lässt, da gab es viel Kritik. Wenn es damals Wahlen gegeben hätte, hätte es mich sehr überrascht, wenn Hamas die gewonnen hätte.
Inwiefern standen Sie selbst unter Druck der Hamas?
Schmale: Nach meinen Äußerungen gab es auf Social Media massive Angriffe gegen mich, auch von Hamas-Leuten. Aber der Druck verlief vor allem so, dass die Hamas-Polizei der UNO gesagt hat: Wir können die Sicherheit von Herrn Schmale nicht mehr garantieren, das ist jetzt ist euer Problem, wenn irgendwer auf den schießt, wir beschützen den nicht mehr. Dann hat meine Leitung entschieden: Das Risiko ist zu groß.