Istanbul. Vor Zehntausenden brandmarkte der türkische Staatschef bei einer Pro-Palästina-Kundgebung in Istanbul den Westen als Kriegstreiber.
Der türkische Staatschef Recep Tayyip Erdogan hatte gerufen, und seine Anhänger strömten zusammen. Bei einer Massenkundgebung auf dem Gelände des früheren Istanbuler Flughafens Atatürk demonstrierte Erdogan am Samstagnachmittag seine Solidarität mit den Palästinensern und erneuerte seine Kritik an Israel und „dem Westen“. Erdogan sagte wörtlich: „Der Hauptschuldige hinter den Massakern, die sich in Gaza abspielen, ist der Westen.“ An die Adresse Israels gerichtet, rief Erdogan: „Der Westen steht in Eurer Schuld, aber die Türkei schuldet Euch nichts. Deshalb sprechen wir ohne zu zögern Klartext.“
Türkischer Staatschef spricht „Klartext“ –Israel zieht Diplomaten ab
Die Antwort aus Israel ließ nicht auf sich warten: Am Samstagabend rief das israelische Außenministerium als Reaktion auf Erdogans „schwerwiegende Äußerungen“ alle seine Diplomaten aus der Türkei zurück und kündigte eine „Neubewertung der Beziehungen zwischen Israel und der Türkei“ an.
Den Palästinensern rief Erdogan zu: „In meinem Namen und im Namen meines Volkes salutiere ich vor der Entschlossenheit der Menschen in Gaza im Angesicht der Bombardements der Unterdrücker.“ Die Türkei werde der Welt beweisen, dass „Israel ein Kriegsverbrecher“ sei. Israel könne „seine Grausamkeiten nur begehen, weil es die Unterstützung des Westens hat“.
Zehntausende solidarisieren sich mit Palästina: Erdogan bezeichnet Israel als „Kriegsverbrecher“
Veranstalter des „Büyük Filistin Mitingi“, des „Großen Palästina-Treffens“, war Erdogans islamisch-konservative Gerechtigkeits- und Entwicklungspartei (AKP). Erdogan selbst hatte über die sozialen Medien die Nation zur Teilnahme an der Veranstaltung aufgerufen. Über die Zahl der Menschen, die sich zu der Massenkundgebung auf dem Flughafengelände versammelt hatten, gab es zunächst keine zuverlässigen Angaben. Es dürften aber Zehntausende gewesen sein. Regierungsnahe türkische Medien wie die Zeitung „Hürriyet“ schrieben sogar von „Hunderttausenden“.
Begrüßt wurden Erdogan und seine Frau Emine von einem Meer aus türkischen und palästinensischen Fahnen. Viele Teilnehmer trugen Stirnbänder mit Aufschriften wie „Wir alle sind Palästinenser“, „Beendet den Völkermord“ und „Wir sind die Stimme der Kinder Palästinas“. Die Flaggen der Türkei und Palästinas fanden sich als Motive auch auf dem Seidenschal wieder, den Erdogan bei seinem Auftritt trug.
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Prominente Unterstützung bei Großdemonstration – Fahnenmeer am alten Flughafen
Einer der Redner bei der Massenkundgebung war Yusuf Islam, der zum Islam konvertierte frühere britische Folksänger Cat Stevens (75). Er rief Israel dazu auf, das Bombardement „unschuldiger Familien, ihrer Wohnungen und vor allem der kleinen Kinder“ zu beenden. Kritik an den Massakern der Hamas an der israelischen Zivilbevölkerung, mit denen am 7. Oktober der Konflikt neu aufbrach, äußerte er nicht.
Zu den Ehrengästen gehörten die Chefs der Splitterparteien, die nach den Wahlen im Mai mit Erdogans AKP eine Koalition bildeten. Devlet Bahceli war als Vorsitzender der ultra-nationalistischen MHP zu der Versammlung gekommen, sowie Fatih Erbakan von der islamisch-fundamentalistischen Neuen Wohlfahrtspartei (YRP), Mustafa Destici von der rechtsextremen BBP und Zekeriya Yapicioglu, der Vorsitzende der radikal-islamischen Hüda Par, die aus der türkischen Kampforganisation Hizbullah hervorging.
Kurz vor der Veranstaltung hatte Erdogan am Samstag an Israel appelliert, seine „ständig zunehmenden Bombardierungen in Gaza“ einzustellen. „Israel muss diesen Wahnsinn beenden“, schrieb Erdogan auf der Plattform X, vormals Twitter.
Erdogan auf dünnem Eis: Beziehungen zu Israel und den USA beschädigt
Der Islamist Erdogan hat schon in der Vergangenheit aus seiner Unterstützung für die Palästinenser nie einen Hehl gemacht. Er ist einer der schärfsten Kritiker Israels und beschuldigte das Land oft des „Staatsterrorismus“. Das führte 2010 zum Bruch. Beide Länder zogen ihre Botschafter ab. Erst 2022 verständigte man sich wieder auf volle diplomatische Beziehungen. Die Annäherung war Teil der Bemühungen Erdogans, die wachsende politische und wirtschaftliche Isolierung der Türkei zu überwinden.
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Aber der Terrorangriff der Hamas auf Israel hat Erdogan in eine schwierige Lage gebracht. „Die Hamas ist keine Terrororganisation, sondern eine Befreiungsbewegung, die für ihre Heimat kämpft“, sagte Erdogan am Mittwoch vor der Parlamentsfraktion seiner Regierungspartei AKP. Der türkische Präsident sagte einen geplanten Besuch in Israel wegen des „inhumanen Krieges Israels gegen die Hamas“ ab.
Erdogan hat führenden Figuren der Hamas in den vergangenen Jahren türkische Pässe ausstellen lassen und beherbergt sie in der Türkei. Deshalb stehen nun die eben erst reparierten Beziehungen zu Israel vor einer schweren Bewährungsprobe. Auch das Verhältnis zu den USA, von denen die Türkei die Lieferung dringend benötigter F-16 Kampfflugzeuge erwartet, wird erneut strapaziert.
Innenpolitischer Druck: Staatschef mit Extremisten im Bunde
Erdogan hat sich deshalb anfangs um maßvolle Töne in dem Konflikt bemüht. Aber es wird für den türkischen Staatschef immer schwieriger, die Balance zu halten. Der innenpolitische Druck wächst. Erdogans Koalitionspartner, die radikal-islamische Hüda-Par, verherrlicht das Massaker der Hamas auf das Musikfestival in der Negev-Wüste als „legitim“ und fordert den Abbruch der Beziehungen zu Israel. Dass die Hamas jüdische Zivilisten getötet habe, sei „zionistische Propaganda“, sagte der Hüda-Par Vizechef Serkan Ramanli dem Nachrichtenportal T24. Der Rechtsextremist Devlet Bahceli forderte sogar kaum verklausuliert, die Türkei müsse der Hamas militärischen Beistand leisten: „Es ist unsere Mission, Gaza zu beschützen“, sagt er. Kaum ein Tag vergeht ohne Israel-kritische und antisemitische Demonstrationen in türkischen Städten. Im Istanbuler Stadtteil Beyazit brachte ein Buchhändler an seinem Laden ein Schild mit der Aufschrift „Kein Zutritt für Juden“ an.
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Es ist eine Gratwanderung für Erdogan. Er kann einerseits die zunehmend israelfeindliche Stimmung im eigenen Land nicht ignorieren, muss aber zugleich die außenpolitischen Beziehungen seines Landes zum Westen bedenken. Deshalb bringt er sich jetzt auch als Vermittler zur Freilassung der von der Hamas gehaltenen Geiseln ins Gespräch – allerdings bisher ohne großen Erfolg. Bei den bisherigen Freilassungen von insgesamt vier Geiseln scheint die Türkei keine Rolle gespielt zu haben. Jordanien und Katar agierten offenbar im Hintergrund als Vermittler. Das Verhältnis Erdogans zu Israel ist überdies inzwischen bereits wieder so zerrüttet, dass die Türkei auch als Mittler bei der Beilegung des Konflikts wohl nicht mehr infrage kommt.
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