Athen. Erdogan nutzt das 100-jährige Bestehen der Türkei dazu, sich über Mustafa Kemal Atatürk zu stellen. So will er seine Macht zementieren.
Als vor 100 Jahren, am 29. Oktober 1923, die türkische Republik ausgerufen wurde, schien der Kurs des Landes vorgezeichnet. Er wies nach Westen. Heute ist die Türkei tief gespalten. Das Land ist hin- und hergerissen zwischen seinen orientalischen Wurzeln und der Sehnsucht nach Europa.
Das Allerheiligste der Türkei befindet sich auf dem Anittepe, einem Hügel unweit des Stadtzentrums von Ankara. Hier erhebt sich ein tempelähnlicher Monumentalbau, das Grabmal des Staatsgründers Mustafa Kemal Atatürk. In der riesigen Säulenhalle steht ein Sarkophag aus weißem Marmor. Dort wird am Sonntag der türkische Staatspräsident Recep Tayyip Erdogan einen Kranz niederlegen und mit einem Eintrag in das Kondolenzbuch dem Staatsgründer seine Reverenz erweisen.
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Erdogan feiert 100 Jahre Türkei: Genugtuung, Stolz, Triumph?
Welche Gefühle ihn bei der Zeremonie bewegen werden, ist leicht zu erraten: Genugtuung, Stolz, vielleicht Triumph. Denn dass er, ein Islamist, als Präsident der Republik diesen 100. Staatsgeburtstag feiert, hätte sich noch vor wenigen Jahrzehnten kaum einer ausgemalt. Atatürk würde sich wohl im Grabe herumdrehen. Sein politisches Vermächtnis ist in Gefahr.
Mustafa Kemal kam aus der Armee. Seine Vision war, nach dem Ende des Ersten Weltkriegs auf den Trümmern des untergegangenen Osmanenreichs eine moderne, säkulare und westlich geprägte Republik zu errichten. Er schaffte den Islam als Staatsreligion ab. An seine Stelle trat der Kemalismus als Staatsräson. Kemal ersetzte die arabische Schrift durch das lateinische Alphabet, führte das metrische System und den westlichen Kalender ein. Er gab Frauen das Wahlrecht, schaffte den Schleier ab. 1934 verlieh ihm die türkische Nationalversammlung den Namen Atatürk, Vater der Türken.
Türkei: Für viele war Erdogan ein Hoffnungsträger
Noch heute hängt Atatürks Bild in jedem Klassenzimmer. Keine Münze ohne sein Profil, kein Geldschein ohne sein Porträt. Der legendäre Staatsgründer ist allgegenwärtig. Aber in den Herzen vieler Menschen hat inzwischen Erdogan den Platz Atatürks als Landesvater eingenommen.
Es war die schwere Finanzkrise von 2001, die dem damals 47-jährigen Erdogan und seiner erst ein Jahr zuvor gegründeten islamisch-konservativen AKP den Weg zur Macht ebnete. Bei den Parlamentswahlen vom November 2002 erreichte sie auf Anhieb die absolute Mehrheit – und Erdogan wurde 2003 Ministerpräsident.
Für viele war Erdogan ein Hoffnungsträger. In nur wenigen Monaten setzte er mehr Reformen um als seine Vorgänger in den zwei Jahrzehnten vorher. „Wir wollen die Demokratie in unserem Land auf das höchste Niveau bringen“, versprach Erdogan 2003 bei einem Besuch in Berlin. Zwei Jahre später erfüllte sich ein jahrzehntealter Traum: Die EU nahm Beitrittsverhandlungen mit der Türkei auf. Das Land erlebte einen beispiellosen Wirtschaftsaufschwung.
„Die Demokratie ist nur der Zug, auf den wir aufspringen, bis wir am Ziel sind“
Inzwischen liegen die Beitrittsgespräche wegen gravierender Menschenrechtsverletzungen auf Eis. Die meisten Reformen seiner ersten Regierungsjahre hat Erdogan längst wieder zurückgedreht. Seit dem gescheiterten Putschversuch vom Sommer 2016 hat er seine Macht weiter zementiert.
Rückblickend meinen Kritiker, Erdogan habe in seinen ersten Jahren die Annäherung an die EU nur dazu genutzt, die Militärs zu entmachten, die sich als Wächter über Atatürks Erbe und die Westorientierung des Landes verstehen. Viele erinnern an das Jahr 1998, als Erdogan in einer Rede aus einem religiösen Gedicht zitierte: „Die Demokratie ist nur der Zug, auf den wir aufspringen, bis wir am Ziel sind.“
Der Mythos einer Verbundenheit aller Turkvölker
Nach zwei Jahrzehnten Erdogan ist das Land tiefer denn je gespalten. Anstatt in die Tradition des Staatsgründers stellt er sich in die Tradition der Osmanen, inszeniert sich als Schutzherr der Muslime weltweit und reaktiviert den von Atatürk abgelegten Panturkismus, den Mythos einer Verbundenheit aller Turkvölker. Es ist vor allem Erdogan, der Religion wieder in die Politik holt, der das Kopftuchverbot in öffentlichen Institutionen aufhebt und die Religionsbehörde stärkt.
„Die AKP repräsentiert nur die eigene Wählerschaft – der streng muslimisch konservative Teil der Bevölkerung – die türkische Nation“, schreiben die Politikwissenschaftler Günter Seufert und Christopher Kubaseck in ihrem Buch „Abschied von Atatürk“.
Erdogans islamische Komponente zeigt sich auch im aktuellen Nahost-Konflikt. Der Präsident will am Samstag bei einer Massenkundgebung in Istanbul seine Solidarität mit den Palästinensern demonstrieren. Es sind Hunderttausende Teilnehmer zu erwarten – und radikale Töne. Dies soll Auftaktveranstaltung für die Festlichkeiten zum türkischen Nationalfeiertag sein.
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Erdogan ergriff offen Partei für die Hamas
Erdogan hat schon in der Vergangenheit aus seiner Unterstützung für die Palästinenser nie einen Hehl gemacht. Jetzt ergriff er offen Partei für die Islamisten aus dem Gazastreifen. „Die Hamas ist keine Terrororganisation, sondern eine Befreiungsbewegung, die um ihre Heimat kämpft“, sagte er vor der Parlamentsfraktion seiner AKP. Seinen geplanten Besuch in Israel wolle er wegen des „inhumanen Krieges gegen die Hamas“ absagen.
Trotz der akuten Wirtschaftskrise konnte Erdogan die Wahlen vom Mai dieses Jahres wieder für sich entscheiden. Das zweite Jahrhundert der Republik will er mit einer Verfassungsreform prägen. Eines ihrer Ziele dürfte sein, die bisherige Begrenzung von zwei Amtszeiten für den Staatschef abzuschaffen. Dann könnte Erdogan auf Lebenszeit im Amt bleiben – wie Atatürk.