Deuz. In der Qulturwerkstatt in Deuz setzen sich rund 30 Leute an den Wahl-O-Mat-Fragebogen ab. Obwohl sie sich ziemlich einig sind, bekommen sie eine absolut unerwartete Empfehlung.
Der Wahl-O-Mat wird vor der anstehenden Bundestagswahl millionenfach benutzt. Unter den Nutzern sind dieses Jahr auch die rund 30 Teilnehmer am „Wahl-O-Mat live“.
Auf der Veranstaltung können die potenziellen Wähler nicht nur ihre Meinung zu den Thesen ankreuzen, sondern sie auch darüber reden. Mit der Hoffnung, andere Meinungen zu hören und neue Positionen kennenzulernen, sind sie in die Qulturwerksatt in Deuz gekommen. Janis Ax (16) zum Beispiel ist es wichtig, „auch andere Meinungen zu hören von Menschen, die man nicht kennt. Nicht nur die aus der Familie.“
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Zu Beginn stellt der Moderator Stefan Bünnig die Regeln vor: nicht unterbrechen, nicht urteilen und andere Meinungen akzeptieren. Gleich darauf wird die erste These vorgestellt: „Deutschland soll die Ukraine weiterhin militärisch unterstützen.“ Nach anfänglicher Zurückhaltung meldet sich die erste Hand: „Ich denke, wir müssen die Ukraine nicht nur weiter unterstützen, sondern mehr unterstützen.“ Viele weitere schließen sich der Meinung an. Gegenargumente, ob der Krieg so nicht ewig dauern könnte, werden nicht wieder aufgegriffen. Bevor dann zur nächsten These gegangen wird, stimmen alle über eine Online-Umfrage anonym und online ab: 18 sind für mehr Militärhilfen, sieben sehen sie neutral und drei sind dagegen. Da die Mehrheit dafür ist, wird „stimme zu“ in den Wahl-O-Mat eingegeben. Am Ende wird so eine Partei herauskommen, die den Durchschnitt der Gruppe abbildet.
Votum in Deuz: Keine Kürzung von Bürgergeld für Arbeitsverweigerer
Beim Thema erneuerbare Energien sind sich alle schnell einig: Eine Förderung ist notwendig. „Den Klimawandel kann jeder spüren, denke ich“, begründet Cynthia Krell ihre Position. Aber ob auch die großen Energiekonzerne gefördert werden müssen? Das stellen manche in Frage. Ohne Gegenstimmen stimmt die Gruppe für eine weitere Förderung. Die nächste These fragt, ob das Bürgergeld gestrichen werden soll, wenn jemand Jobangebote ablehnt. „Das Bürgergeld sehen rund 25 Prozent als bedingungsloses Grundeinkommen an“, schätzt Wolfgang Hoffmann. Ein anderer widerspricht. Nur ganz wenige Bezieher würden sanktioniert, weil sie nicht mit der Arbeitsagentur kooperierten. „Das Problem gibt es faktisch nicht.“ Cynthia Krell betont: „Es braucht eine Ursachenbekämpfung von Armut.“ Ein Anderer weist auf den rechtlich engen Rahmen für Kürzungen hin. So werden sich die Bälle zugespielt. Zum Schluss der sachlichen und freundlichen Diskussion stimmt eine Mehrheit gegen die Kürzung des Bürgergeldes für Arbeitsverweigerer.
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Am spannendsten wird es in der Qulturwerkstatt, als es um das Thema Migration geht. „Es muss sich irgendetwas am Zustrom ändern. Wie? Das weiß ich nicht.“ Kontra kommt aus einer Reihe weiter vorne: „In den Siebzigern kamen auch hunderttausende Gastarbeiter aus anderen Ländern. Und Deutschland steht immer noch.“ Außerdem bräuchte Deutschland Menschen aus dem Ausland für die Wirtschaft. Daraufhin schaltet sich eine ehemalige Mitarbeiterin des Jugendamtes ein, es fehlten für die Flüchtlinge überall Betreuungskräfte. „Ein Land ist nur begrenzt integrationsfähig“, sagt ein Anderer. Die Abweisung von Asylbewerbern an den deutschen Außengrenzen geht den Teilnehmern jedoch zu weit, bei der Abstimmung sind die Meisten dagegen.
Harmonie allenthalben in Deuz
Nach 90 Minuten geht es in die Pause. Es gibt reichhaltige Snacks gegen Spende und Getränke zu überzeugend günstigen Preisen – zumindest für einen Kultur-Veranstaltungsort. Und wie ist die Stimmung unter den Diskutanten? „Es ist eine gute und offene Atmosphäre“, findet Therese Wäschenbach. „Es ist schöner, als den Wahl-O-Mat zu Hause alleine zu machen“, bestätigt Andreas Richter. Gibt es auch Kritik? „Mehr Leute mit ganz anderer Meinung wären interessant“, wünscht sich Felix Müller.
Im zweiten Teil geht es jedoch harmonisch weiter. Es wird kaum gestritten, stattdessen tauschen die Teilnehmer ihre oft sehr ähnlichen Positionen aus. Die große Mehrheit ist für eine Erhöhung des Spitzensteuersatzes, für eine verpflichtende gesetzliche Krankenkasse, für die Frauenquote und gegen ein elternabhängiges BAföG. Doch die Schuldenbremse entfacht die Diskussion neu. Wolfgang Hoffmann beobachtet: „Wir haben seit Jahren von der Substanz gelebt. Das Ergebnis sehen wir jetzt mit kaputten Straßen.“ Er plädiert für eine Reformierung. Jörg Galbas weist auf die Zinsen hin: „Das was an Schulden gemacht wird, geht vor allem zu Lasten der jungen Generation.“ Tim Lechthaler widerspricht: „Die Zinslage war die letzten Jahre sehr gut für Investitionen.“

Weitere fünf Thesen werden nicht mehr diskutiert, sondern direkt zur Abstimmung gegeben. Ausgerechnet hier zeigen sich zwei sehr strittige Thesen. Nur eine sehr knappe Mehrheit ist gegen die Absenkung der EU-Zölle auf chinesische Autos und eine knappe Mehrheit ist für ein soziales Pflichtjahr für junge Menschen.
Das spuckt der Wahl-O-Mat aus
Nun folgt die große Auflösung: Welche Partei wird der Gruppe empfohlen? Welche Positionen finden sich wieder bei den Parteien? Der Wahl-O-Mat verkündet: „Es kann kein individuelles und zuverlässiges Ergebnis berechnet werden“ – zu wenig Thesen wurden von der Gruppe abgestimmt. Lautes Lachen erfüllt den Raum. Zwei Thesen später kommt dann das Ergebnis: SSW …was? Der Südschleswigsche Wählerverband stimmt zu 93,8 Prozent mit der Gruppe überein, ist aber nur in Schleswig-Holstein wählbar. Die nächsten großen Parteien sind die Linke und die Grünen (beide 81,3 Prozent). Die AfD kommt auf 3,1 Prozent Übereinstimmung.
„Es ist wichtig, Räume zu schaffen, um sich auszutauschen.“
Das Ergebnis spiegelt den Austausch sehr gut wider. Eine Teilnehmerin bemerkt kritisch, das Publikum sei doch „sehr homogen“. Auch Mitorganisator Stefan Bünnig gibt zu, eigentlich sei es das Ziel gewesen, Menschen mit sehr unterschiedlichen Positionen zu erreichen. Markus Steinwender, Apollo-Intendant und Mitorganisator, ist dennoch zufrieden: „Es ist wichtig, Räume zu schaffen, um sich auszutauschen.“ Man wolle das Format bei der nächsten Wahl wiederholen und weiterentwickeln. Die Organisatoren der Qulturwerkstatt in Deuz, dem Bruchwerk- und dem Apollo-Theater hatten sich kurzfristig zusammengetan, als die eigentlich erst im September erwartete Bundestagswahl vorgezogen wurde.
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