Beienbach. Ohne Auto ist man in Netphen-Beienbach etwas aufgeschmissen. Dafür bietet das Dort eine Menge: Metal-Festival, „Pizza für alle“ und viel Natur.

Ein Wintergarten inmitten der grünen Natur, ein Wohnzimmer mit Blick auf den üppigen Nutzgarten: Hier wohnt seit mehr als 40 Jahren Godela Schöllnhammer. „Ich brauchte einen Ort für meine Pferde“, sagt die gebürtige Sauerländerin, die bis zu ihrer Pensionierung als Lehrerin an einer Siegener Realschule arbeitete. Und einige dieser ruhigen Island-Pferde stehen direkt oberhalb ihres Grundstücks. Godela Schöllnhammer weiß: In den Reitställen Beienbachs sind rund 140 Pferde zu Hause. „Deutlich mehr als Kühe“, sagt sie schmunzelnd.

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Mit am Tisch sitzt Rosel Flender, übrigens wie Godela Schöllnhammer aktiv bei den „Omas gegen Rechts“. Rosel Flender hat ihr ganzes Leben in Beienbach verbracht, war Ortsbürgermeisterin und ist seit Jahren Leiterin des Posaunenchores. „Wir haben einen großen Frauenanteil, für einen Posaunenchor eher unüblich“, sagt sie. Zu den freiwilligen Verpflichtungen, die sich der Chor gibt, gehört, jedem Mitbürger ab 75 Jahren zum Geburtstag ein Ständchen zu bringen.

Die alte Mühle im Beienbacher Dorfzentrum ist ein lauschiges Plätzchen.
Die alte Mühle im Beienbacher Dorfzentrum ist ein lauschiges Plätzchen. © Wolfgang Leipold | Wolfgang Leipold

Netphen: In Beienbach spielt die Gemeinschaft eine große Rolle

Vieles in Beienbach ist genossenschaftlich organisiert, wird gemeinsam genutzt. Etwa das Backhaus. An Wochenenden können Familien dort abwechselnd ihr Brot oder Kuchen backen, meist auf Vorrat. Manchmal kommen Nachbarn hinzu, entstehen besondere spontane Events, vor allem, wenn es „Pizza für alle“ gibt. Theoretisch könnte das benötigte Mehl auch nebenan hergestellt werden. Denn die Mühle gegenüber ist noch vollständig intakt. Eine weitere Besonderheit des Ortes steht in Rufweite: Ein Anfang der 1960er gebautes „Gefrierhaus“, in dem Bürger Beienbachs ein Fach mieten können, um dort ihr Brot und andere Lebensmittel tief gefroren zu konservieren.

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Beienbach hatte früher immer eine Schule. Die nächsten Ortschaften Deuz oder Netphen sind jeweils fünf Kilometer entfernt und für Kinder zu Fuß nicht erreichbar – „Helikoptereltern“ gab es da noch nicht. Diese 1768 erbaute Schule stand mitten im Dorf, brannte aber 1899 ab. Die neue Schule wurde am Ortseingang errichtet: Einklassig und mit Lehrerwohnung. Nach der Schulreform, die Mittelpunkt-Schulen vorsah, stand sie lange leer.

Beienbach in Kurzform

350 Meter hoch gelegen, 312 Einwohner; mit ÖPNV nur sporadisch zu erreichen: Der letzte Bus fährt um 19.40 Uhr. Beienbacher ohne Auto sind also nicht mobil.

Bekanntester Einwohner: Henner Braach, Rinderzüchter und Milchbauer, Vorsitzender des Landwirtschaftlichen Kreisverbands Siegen-Wittgenstein und Vizepräsident des Westfälisch-Lippischen Landwirtschaftsverbands.  

Netphen: In Beienbach kommt sogar regelmäßig ein Schneider ins Dorf

Durch vielerlei finanzielle Unterstützung, vor allem aber dank immenser Eigenleistung der Beienbacher, entstand aus dem nun nicht mehr gebrauchten Gebäude ein Dorfgemeinschaftshaus im wahrsten Sinne des Wortes: Aus dem Klassenzimmer (Rosel Flender: „Hier bin ich früher unterrichtet worden“) wurde ein Versammlungsraum, in angenehmen Farben und von Kunstwerken geschmückt, die die Frauen des Ortes gemalt haben. Der Raum wird mehrmals im Jahr auch als Ort für Gottesdienste genutzt, kann ansonsten für Feiern aller Art gebucht werden. Perfekt, denn eine professionelle Küche ist direkt nebenan. Im gemütlichen Thekenraum treffen sich die Beienbacher einmal pro Woche zum Klönen, Skatspielen, Kochen. Im Obergeschoss, der ehemaligen Lehrerwohnung, ist Platz für kleinere Besprechungen und Seminare. Nebenan in einer früheren Rumpelkammer stehen eine Werkbank und Staffeleien, gerne auch als Jugendtreff von der Qulturwerkstatt Deuz genutzt. „Unser Kreativraum“, sagt Godela Schöllnhammer, und Rosel Flender ist stolz, dass ihr Dorfgemeinschaftshaus „fast immer“ belegt ist. All das ist auch ein Grund, warum Beienbach vor einigen Jahren beim WDR-Wettbewerb „Das coolste Dorf Westfalens“ den Spitzenplatz erzielte.

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Einige Lebensmittel (Honig, Kartoffeln, Gemüse...) können die Dorfbewohner in Beienbach selbst kaufen. Was und wo steht auf einem der vielen liebevoll gestalteten Schilder am Ortseingang. Die beiden Tante-Emma-Läden sind schon lange Vergangenheit. Auch der einzige Gasthof hat seit 25 Jahren die Zapfhähne zugedreht. Dafür kommt dann und wann der „Hosenmann“ ins Dorf. Ein Schneider aus dem Westerwald, der Bauern und Handwerkern Arbeitskleidung anbietet: Die nötigen Maße nimmt er vor Ort, die Hosen und Jacken schneidert er in seiner Werkstatt passgenau und bringt sie zu seinen Kunden. Nicht billig, aber „unkaputtbar“. Weitere Besonderheiten Beienbachs: Welches andere Dorf kann von sich behaupten, einmal eine Hanfplantage gehabt zu haben, außerdem Spargel- und Erdbeerfelder. Letztere sind in diesem Jahr aber durch den Regen ziemlich abgesoffen.

Beienbach heißt Gäste mit einer Begrüßungstafel willkommen.
Beienbach heißt Gäste mit einer Begrüßungstafel willkommen. © Wolfgang Leipold | Wolfgang Leipold

Netphen-Beienbach: Beim Freak Valley Festival kommen auf jeden Einwohner zehn Besucher

Einmal im Jahr wird Beienbach nicht nur deutschland- sondern sogar europa- und weltweit bekannt: Durch das Freak Valley Festival. Da verzehnfacht sich die Einwohnerzahl des Dörfchens, denn zu den 300 „Ureinwohnern“ kommen bis zu 3000 Musikfreunde und campieren meist auf den Wiesen hoch über dem Ort. Nachdem das Festival bei der ersten Auflage zufälligerweise zeitgleich mit dem Beienbacher Naturmarkt stattfand, stieß dieser Menschenauflauf zunächst auf große Vorbehalte. Doch nachdem das bunte Völkchen aus allen Winkeln der Republik, Ländern wie Spanien, Italien, Holland, Frankreich und sogar aus den USA und Japan sich völlig friedlich verhielt, ein angenehmer Duft über dem Wiesengelände schwebte, hatten die Beienbacher sie schnell ins Herz geschlossen. Zumal einige der Freak Valley Freaks im BK-Heim übernachteten. Dieses fromme Haus der Kirche (BK steht für Bibelkreis), 1923 auf dem Gelände der stillgelegten Grube Schnellenberg gebaut und inzwischen von Zehntausenden Jugendlichen aus kirchlichen Gruppen und Schulklassen kurzzeitig bewohnt, hatte irgendwann auch einmal Besuch von Johannes Rau, dem NRW-Ministerpräsidenten und späteren Bundespräsidenten. Und auch das können nicht viele Dörfer von sich sagen.

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