Schwelm. Die Therapeutin des Angeklagten sorgt vor Gericht für eine große Überraschung: Die Gewalt in der Ehe soll von der Getöteten ausgegangen sein.
Seit mehr als zwei Monaten läuft nun schon der komplexe Indizienprozess gegen einen 48-jährigen Schwelmer am Hagener Landgericht. Ihm wird vorgeworfen, seine Noch-Ehefrau am 28. Februar brutal im Garagenhof ihres Wohnhauses an der Moltkestraße in Schwelm erstochen zu haben. Aussagen gegenüber der Polizei hinsichtlich Gewalt in der Ehe ließen ihn schnell zum Tatverdächtigen werden. Er wurde noch am selben Tag festgenommen.
Unzählige Zeugenaussagen vor Gericht bestätigten umfangreich die mutmaßliche psychische wie physische Gewalt, die die 50-Jährige von ihrem Ehemann jahrelang habe ertragen müssen. Viele Freunde und Arbeitskollegen, mehrere Therapeuten und die Hausärztin des Opfers schilderten im Gerichtssaal ein übereinstimmendes Bild. Nun sorgen die Aussagen der Psychotherapeutin des Angeklagten für eine enorme Überraschung vor Gericht.
Von Schweigepflicht entbunden
Überrascht ist zunächst die Therapeutin selbst. Dass sie sich an diesem Tag überhaupt vor Gericht äußern muss, damit hat sie offenbar nicht gerechnet. Nach der Belehrung durch die Vorsitzende Richterin Heike Hartmann-Garschagen beruft sie sich auf ihre Schweigepflicht und will den Zeugenstand gern schnellstmöglich wieder verlassen. Doch mit einem kurzen Blick zu seinem Verteidiger, der zustimmend nickt, entbindet der angeklagte Schwelmer die Frau von jeglicher Schweigepflicht.
Eine Tatsache, die zunächst verwundert. Haben die Verteidiger doch jedes Mal Einspruch erhoben, wenn Ärzte oder Therapeuten des Opfers aussagten. Doch die Verwunderung über die Entscheidung ist schnell verflogen. Denn was die 70-Jährige dann schildert, lässt den Angeklagten in einem ganz anderen Licht erscheinen.
„Seine Frau hat ihn häufig provoziert.“
Nicht die getötete Schwelmerin sei die eigentlich Leidtragende in der Beziehung gewesen, sondern der Angeklagte. „Seine Frau hat ihn häufig provoziert“, erzählt die Therapeutin aus den Sitzungen, die sie mit dem 48-Jährigen über die Jahre hatte. Bereits seit 2015 war er immer wieder bei ihr in Behandlung. Wegen eines Tinnitus‘, Zwangshandlungen und Zwangsgedanken sowie großen Selbstwertproblemen. Auch nach der Trennung Ende 2022 suchte der Angeklagte psychologische Hilfe. Zunächst soll er bei einer Vertretung untergekommen sein, ab Sommer 2023 bis zu seiner Verhaftung sei er dann wieder bei ihr in Behandlung gewesen.
Ehefrau soll die Gewalttätige gewesen sein
Die Schwelmerin soll ihren Ehemann in der Vergangenheit mit einem Messer bedroht haben, habe ihm einen Finger gebrochen und sei für einen Rippenbruch des Angeklagten verantwortlich gewesen. Auch den Sohn soll sie zur Gewalt gegenüber dem Vater angestachelt haben. Außerdem berichtet sie davon, dass seine Frau sich selbst geschlagen und ihre eigenen Haare ausgerissen haben soll. Selbstverständlich beruhen ihre Aussagen auf den damaligen Schilderungen des Angeklagten. Selbst gesehen hat die 70-Jährige davon nichts. Sie scheint aber keinerlei Zweifel an der Glaubwürdigkeit ihres Patienten zu haben.
Lange vor der Trennungsaktion der Ehefrau, bei der die später Getötete mithilfe einiger Freunde und Kollegen aus der gemeinsamen Wohnung auszog, sei er es gewesen, der in der Beziehung nicht glücklich war und gegenüber seiner Therapeutin die Bereitschaft zur Trennung geäußert habe. „Man müsste es aber vernünftig über die Bühne bringen“, da seien sie sich einig gewesen. Auf ihr Anraten hin soll er der 50-Jährigen auch die Trennung vorgeschlagen haben, was diese wiederum nicht gewollt habe.
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Im Sommer 2022, circa ein halbes Jahr vor dem Auszug der Ehefrau, sollen ihre tätlichen Angriffe auf den Angeklagten laut Therapeutin zugenommen haben. Der 48-Jährige habe sich ständig hinterfragt, ob er Opfer seiner Frau sei oder selbst Schuld an der Situation. „Täter-Opfer-Umkehr“ notierte sich seine Therapeutin dazu in der Akte. Aus dem Zusammenhang wird klar, dass die Expertin davon ausging, dass seine Frau ihn dahingehend manipuliert.
Narzisst oder Perfektionist?
Den Vorwurf des Narzissmus‘, der immer wieder von verschiedenen Zeugen in den Raum geworfen wurde, könne sie so nicht unterschreiben. „Ich finde, er hat leicht narzisstische Züge, aber er ist kein typischer Narzisst“, so die Therapeutin. Es handle sich bei ihm vielmehr um eine perfektionistische Persönlichkeit, um seine Angst und Unsicherheit zu kompensieren. Daher sei es zwischenmenschlich in Jobs oft schwierig für den Schwelmer gewesen. Er habe immer direkt festgestellt, was in einer Firma falsch läuft und wollte alle Fehler beheben, was in der Regel bei Kollegen nicht gut angekommen sei. Bewerbungen seien in ihren Gesprächen ein großes Thema gewesen und dass seine Frau ihn dabei nicht genug unterstütze.
Im Anschluss an die Trennung sah die 70-Jährige bei ihm eine posttraumatische Belastungsstörung. Er sei „traurig, enttäuscht, bestimmt auch wütend“ darüber gewesen. Allerdings hatte sie den Eindruck, er würde die Wut eher gegen sich selbst richten, sei auch suizidal gewesen. Er habe mehr um den Sohn getrauert als um die Beziehung zu seiner Frau. Der Verlust des Umgangsrechts habe ihn besonders stark getroffen.
Trennung wurde nicht verarbeitet
Sie beschreibt ihn auch als „paranoid und misstrauisch“, führt dazu unter anderem an, dass der Angeklagte Gespräche aus den Therapiesitzungen heimlich mitschnitt. Die Psychotherapeutin fühlt sich im Zeugenstand offensichtlich unwohl, weist die Vorsitzende Richterin mehrmals darauf hin, sie wisse doch ohnehin schon alles von diesen Tonbandaufnahmen. Ein wichtiger Punkt, den das Schwurgericht interessiert: Hat der Angeklagte die Trennungssituation irgendwann akzeptiert und gelernt, damit umzugehen?
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Seine Therapeutin habe ihm laut eigener Aussage zur Akzeptanz geraten. Seine Antwort: „Nein, das ist keine Möglichkeit.“ Auch die Neurologin des mutmaßlichen Täters, die ebenfalls vor Gericht von ihrer Schweigepflicht befreit wurde, sagte aus, dass ihn die ganze Situation auch ein Jahr später noch genauso belastete. Sie sah eine Art seelischen Stillstand, hatte das Gefühl, sie komme ambulant bei ihm nicht mehr weiter und notierte sich im Januar 2024 noch „Sollte in Klinik gehen“.
„Als narzisstische Person habe ich ihn nicht wahrgenommen, eher als jemanden in Not“, sagte auch die Neurologin des Angeklagten im Zeugenstand aus. Sie attestierte ihm ängstlich gefärbte Depressionen und eine unsichere Persönlichkeitsstörung. Nach der Trennung habe sie bei ihm keinen Hass gesehen, nur Ungläubigkeit. Im Rahmen der Trennungsaktion seiner Frau erzählte er der Neurologin, es hätten ihn maskierte Männer in seiner eigenen Wohnung überfallen und festgehalten. Bestätigt ist zwar, dass auch Männer bei der Auszugsaktion dabei waren und ihn davon abhielten, sich seiner Frau zu nähern. Dass jemand davon eine Maske trug, ist aber durch keine andere Zeugenaussage der Beteiligten erwähnt worden.
Psychiatrisches Gutachten vom Gericht
Wie die Richterbank am Landgericht diese Zeugenaussagen, insbesondere die der Therapeutin deutet, wird sich zeigen. Auch der psychiatrische Sachverständige Dr. Nikolaus Grünherz, der im Gerichtsaal anwesend ist und am Ende sein eigenes Gutachten zu dem Angeklagten verlesen wird, hat die Schilderungen aufmerksam verfolgt und sich mit verschiedenen Rückfragen an die Expertinnen gewandt. Er wird sich seine eigene Meinung zu den neusten Entwicklungen gebildet haben. Wie diese ausfällt, bleibt abzuwarten.