Schwelm. Der Psychologe der ermordeten Schwelmerin ist von seiner Schweigepflicht entbunden und berichtet aus den Therapiesitzungen.
Die 50-Jährige tauchte immer tiefer in ihre eigene Vergangenheit ein, die aus Erniedrigungen, einem sexuellen Albtraum, Angst und vollständiger Kontrolle bestanden haben soll. Angst vor ihrem Ehemann soll sie allerdings keine gehabt haben, der nun wegen Mordes an der Schwelmerin angeklagt ist. Doch: „Wir haben ihr immer wieder gesagt: Sei vorsichtig und rechne mit allem.“
Diese Worte stammen von dem Psychotherapeuten der Finanzbeamtin, die am 28. Februar mit mehr als 30 Messerstichen und -schnitten an ihrer Garage hingerichtet worden war. Auch wenn die Verteidiger des 48-jährigen Ehemannes, Christoph Wortmann und Ihsan Tanyolu, Einspruch dagegen einlegten, und auf eine eventuelle Schweigepflicht hinwiesen, lehnte die Kammer dies ab, sodass der 51-Jährige aus den vielen Sitzungen mit der Getöteten berichten durfte.
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Dabei dauerte es ein paar Jahre mit langen Unterbrechungen, bis die Frau sich dem Psychologen tatsächlich anvertraute. Das erste Mal kam sie im Jahr 2020 zu ihm, erzählte, sie wolle Hilfe für ihren Sohn. Der würde unter Schulangst leiden, habe oft Bauchschmerzen. „Zwei Wochen später erzählte sie, dass ihr Mann viel Druck auf sie und den Sohn ausüben würde, der Junge massive Angst davor habe, zu versagen.“ Im laufenden Mordprozess gegen den Vater war dies immer wieder Thema. Zeugen hatten ausgesagt, dass der 48-Jährige seinen Sohn regelmäßig dazu gezwungen habe, bis in die tiefe Nacht hinein zu lernen. Nach diesen Aussagen konsultierte die Frau den Psychologen allerdings ein Jahr lang nicht mehr.
„Im März 2021 war sie plötzlich wieder bei mir, berichtete, dass die Schulangst des Sohnes nur ein Vorwand waren, um über ihre Ehe zu sprechen“, sagt der Therapeut. Die Schwelmerin soll erzählt haben, dass sie sich bereits eine Wohnung angemietet habe, doch Angst habe, ihren Mann zu verlassen. Sie sprach davon, dass dieser sie in den Keller sperre, sexuell übergriffig sei, sie erniedrige und gedroht habe, den gemeinsamen Sohn die Treppe hinunterzuschubsen. Therapeut und Patientin hätten sich darauf geeinigt, die Zusammenarbeit vordergründig über den Sohn laufen zu lassen, damit sie keine Repressalien von ihrem Ehemann bekäme. „Sie wollte wiederkommen, doch das ist nicht passiert.“
Bis Anfang des Jahres 2023. Da war sie mit dem Sohn mittlerweile tatsächlich nach der Befreiungsaktion ihrer Freunde und Kollegen in der eigenen Wohnung. Ab sofort wurden die Gespräche regelmäßig. Abwechselnd begab sich die Schwelmerin in Einzelsitzungen und Gruppentherapien. Etwa 30-mal sei sie in der Folge bei ihm gewesen, berichtete der Therapeut, der festgestellt hatte, dass sie nach der Trennung aufgeblüht sei.
Doch was sie ihm erzählt haben soll, zeichnet das Bild eines grausamen Lebens. Neben all den Erniedrigungen und der häuslichen Gewalt, von denen sie auch Freundinnen und Kollegen berichtet hatte, sprach sie mit dem Psychologen über eine weitere Komponente, die das Eheleben bestimmt haben soll: Sex. „Dreh- und Angelpunkt dieser Beziehung war der Sex. Es ging vor allem um seine Befriedigung.“ Nachdem sie aus dem Keller wieder in die Wohnung durfte, in den er sie ständig eingesperrt haben soll, habe er sie zu sexuellen Gefälligkeiten gezwungen. „Das hat sie teilweise massiv angeekelt. Sie hat die Sexualität mit ihm als Albtraum beschrieben. Doch sie hat das alles über sich ergehen lassen, weil ihr höchstes Gut war, den Sohn zu beschützen. Auf diese Weise wollte sie, dass der Fokus des Mannes sich nicht auf ihn richtet.“
Warum hat sie sich niemals zur Wehr gesetzt und dieses Martyrium so lange ertragen, will das Gericht um die Vorsitzende Richterin Heike Hartmann-Garschagen wissen. „Frauen wie sie neigen dazu, sich narzisstische Partner zu suchen, die alles dominieren und kontrollieren“, führt der Experte aus. Narzissten seien sehr manipulativ, würden eine Täter-Opfer-Umkehr erzeugen, sie würden mit Sätzen argumentieren wie: „Ich konnte gar nicht anders reagieren, weil Du Dich so absurd verhalten hast.“ Der Psychologe macht deutlich: „Frauen in solchen Situationen denken dann, dass sie es auch gar nicht anders verdient hätten.“
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Während der Therapeut darüber berichtet, wie sich seine Klientin stabilisiert hat, lebensfroh und liebenswert gewesen sei, zeigt auch der Angeklagte zum ersten Mal Emotionen im Gerichtssaal und ringt sichtlich mit den Tränen. Der Psychologe und seine Klientin gaben ihm den Spitznamen „Kackvogel“, eine gängige Distanzierungstechnik, wie dieser berichtet. Fortan benutzte sie diesen Namen vorwiegend, wenn sie über ihren Ex sprach.
Den Kontakt des Sohnes mit dem Angeklagten habe sie nicht behindert, der Junge selbst habe sich dazu entschieden, keinen Kontakt mehr mit seinem Vater haben zu wollen. Jede unvorhergesehene Konfrontation mit ihrem Ex habe sie dennoch sehr aufgewühlt. „Und er soll immer wieder überall aufgetaucht sein. Wir haben ihr in der Gruppe gesagt, dass sie sehr vorsichtig sein soll. Ich habe ihr gesagt, dass sie von seiner Richtung aus mit allem rechnen muss“, sagte der Psychologe im Zeugenstand. Doch zu keinem Zeitpunkt habe sie geäußert, dass sie Angst vor ihm habe.
Ungewöhnlich, so betont er auf Nachfrage der Verteidigung, sei es, dass sie sehr offensiv mit den Vorfällen aus der Ehe auf Menschen zugetreten sei und diesen davon berichtet habe. „Doch sprechen gehört auch zur Verarbeitung“, sagte der Experte abschließend.
Am Dienstag, 29. Oktober, wird das Verfahren nun vor dem Hagener Schwurgericht fortgesetzt.