Arnsberg. Haus Marienfrieden und Träger SKF Hochsauerland arbeiten Missbrauchsfälle der Vergangenheit auf und zahlen Entschädigung. Die Opfer bitten sie um Entschuldigung.
Es wurde ein Treppengang zu Abgründen. Als sich der neue Vorstand des Sozialdienstes Katholischer Frauen Hochsauerland 2021 in den Keller begab, um im Rahmen einer gründlichen Aufarbeitung von sexuellen Missbrauchsfällen im Zeitraum, zwischen 1976 und 2004, im Haus Marienfrieden in alten Akten zu lesen, ahnte Vorsitzende Silke Cronenberg nicht, was sie dort erwartete. „Es kam immer mehr und mehr“, erzählt sie betroffen. Eingeleitet wurde damit ein Prozess der Transparenz, Aufklärung und Entschädigung. Jetzt ist es dem Vorstandsteam und der Einrichtungsleitung wichtig, die bislang identifizierten Opfer öffentlich um Entschuldigung zu bitten. Dabei ist es Silke Cronenberg völlig bewusst: „Weder Worte noch Geld können das Leid der Betroffenen lindern“.
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Die Vorwürfe und Fälle, um die es geht, aber vor allem der Verdacht sind nicht ganz neu. Schon im Jahr 2011 hatte es eine Strafanzeige gegen einen ehemaligen, inzwischen verstorbenen Heimleiter des Hauses Marienfrieden gegeben. Das Verfahren wurde 2013 eingestellt - ohne Urteil. Im Nachgang hatte es zusammen mit der Kirche Ansätze gegeben, mehr Licht ins Dunkle zu bringen. „Von Aufarbeitung konnte man da aber nicht reden“, erklärt Leiter und SkF-Vorstandsmitglied Ludger Kottmann, „es ging mehr ums Befrieden.“ Spätestens aber mit den Caritas-Leitlinien 2021 kam Bewegung in die Aufklärung: Häuser wurden aufgefordert und auch unterstützt, sexuelle Missbrauchsfälle aufzuklären und auch zu entschädigen. Seitdem hat das SkF Hochsauerland Rücklagen in Höhe von 400.000 Euro gebildet, um Opfer zu entschädigen.
- Opfer wollten schon vor Gericht
- Aufarbeitung der Heimerziehung der 50er-, 60er- und 70er-Jahre in Marienfrieden
- Marienfrieden arbeitet Geschichte auf
Angestoßen wurde ein langer und gründlicher Prozess. „Wir wollten eine vollständige Aufarbeitung“, betont der SkF-Vorstand. Zur Hilfe geholt wurde die Psychologin Marianne Kloidt, die Erfahrungen mit den Strukturen des Hauses Marienfrieden hat, und deren Ehemann Norbert. Gemeinsam begann die Recherche. Nach Aktensicht wurden 34 potenzielle Opfer identifiziert. Aus diesen Erkenntnissen wurden 28 Personen angeschrieben und zu Interviews eingeladen. Zwölf Rückmeldungen dazu hatte es gegeben. Gesprochen wurde dann mit möglichen Opfern, Erziehern und Mitarbeitern. Zwei Jahre lang wurde recherchiert. „Es war für uns schwierig, das Puzzle zusammenzukriegen“, erklärt Silke Cronenberg. Die externe Begleitung sei sehr hilfreich gewesen.
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Nach zwei Jahren lag im Sommer 2024 der vorläufige Abschlussbericht vor - ein detailliertes Werk über Zusammenhänge, Hintergründe und Taten. „Als wir den Bericht gelesen haben, waren wir tief erschüttert“, sagen Silke Cronenberg und ihre Vorstandskolleginnen Melanie Sander (stellv. Geschäftsführerin) und Cordula Eickel (2. Vorsitzende), „wir sind doch auch alle Mütter!“. Sechs Opfer wurden ausgemacht. „Und es können durchaus noch mehr sein“, fürchtet Ludger Kottmann. Alles waren Jungen. Alle mussten sexuelle Übergriffe des einstigen Heimleiters über sich ergehen lassen.
Den Opfern hilft der SKS-Vorstand nun bei den Anträgen auf die Entschädigung. In einem Falle wurde diese auch schon ausgezahlt. Entschädigungssummen liegen im Bereich um 50.000 Euro - die genaue Summe legt eine unabhängige Kommission fest. „Es geht aber den meisten nicht ums Geld“, sagt Silke Cronenberg, „wichtig ist, dass den Opfern jetzt geglaubt wird“.
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In einer besonderen Situation in diesem Prozess der Aufarbeitung sah sich Ludger Kottmann. Er kam im Jahr 1993 als 29-Jähriger ins Haus Marienfrieden und ist heute der Leiter der Einrichtungen. Er fragt sich nicht selten, „ob ich es nicht hätte wissen können und müssen“. Damals hatte er im Rahmen der Strafanzeige gegen den ehemaligen Heimleiter ausgesagt. Zur Verurteilung konnte das nicht beitragen. „Ich hatte damals anfangs kein Misstrauen“, sagt Kottmann. Wenn der Heimleiter abends länger im Haus geblieben war, habe er darin besonderes Engagement gesehen. Und selbst die Sauna im Haus empfand er im damaligen Kontext eher modern als als fragwürdig. Ludger Kottmann ist im Gespräch deutlich anzumerken, wie es ihn heute schmerzt, damals nicht die Anzeichen für das gesehen zu haben, was nicht sein durfte.
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Inzwischen hat der SkF einen Brief an alle bislang ermittelten Opfer geschrieben. „Wir sind beschämt, dass damals niemand den Übergriffen des Täters Einhalt geboten hat, obwohl es Anzeichen dafür gab“, heißt es in diesem Brief. Und weiter: „Heute möchten wir Sie aufrichtig für das Geschehene um Entschuldigung bitten, auch wenn die schlimmen Ereignisse und das damit bis heute verbundene Leid nicht rückgängig zu machen sind“. Im Brief wird darum gebeten, „trotz des späten Zeitpunktes, das Mitgefühl für das zugefügte Leid und unsere Scham über das Versagen der damals Verantwortlichen anzunehmen“.
Starke Worte am vorläufigen Ende eines Prozesses, der auch einen Auftrag für die Gegenwart und Zukunft bedeutet. Aktuell gibt das Haus (auch mit seinen dezentralen Wohngruppen) 45 Kindern und Jugendlichen ein Zuhause. Der SkF überarbeitet inzwischen alle zwei Jahre sein Schutzkonzept gegen sexuelle Übergriffe an Kindern. Anders als früher käme heute der Großteil der Kinder aus dem Raum Arnsberg und sei sozial breiter aufgestellt. „Die Kinder haben viele Bezugspersonen, denen sie sich anvertrauen können“, so Ludger Kottmann. Auch Eltern seien viel enger eingebunden.
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Zudem sei auf allen Ebenen eine hohe Sensibilisierung für das Thema sexuelle Gewalt festzustellen. Im Haus Marienfrieden gibt es darüber hinaus ein modernes Sicherheitssystem, bei dem sich Kinder einschließen können. Eine Öffnung durch Mitarbeiter muss später begründet und aufgeklärt werden. Mitarbeiter und Ehrenamtler des SkF würden zudem regelmäßigen Präventionsschulungen unterzogen. Das wird so auch den angeschriebenen Opfern im Brief mitgeteilt: „Schon vor der Aufarbeitung der schrecklichen Geschehnisse haben sich Strukturen unserer Einrichtung grundlegend verändert“, um den Kindern in den Einrichtungen „ein sicheres Leben, frei von Übergriffen und mit der Chance auf eine gute Zukunft“ zu ermöglichen.
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Der SkF-Vorstand hat ein lange tabuisiertes Thema offen gelegt und Verantwortung für die eigene Geschichte des Hauses übernommen. „Hier ist ein emsiger Vorstand, der wissen will, was passiert ist“, sagt Melanie Sander. Vertuschen und Verheimlichen sei nicht geboten, sondern allein Aufklärung und Aufarbeitung. Silke Cronenberg bringt es auf den Punkt: „Wir wollen alle auch noch in den Spiegel schauen können“
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