Olpe. In ihrer Kindheit wurde eine Frau aus Olpe durch ein enges Familienmitglied jahrelang sexuell missbraucht. Als sie die Erlebnisse nicht mehr verdrängen kann, bricht eine Welt für sie zusammen.
Als Frauke Müller (Name von der Redaktion geändert) aus Olpe mit 49 Jahren plötzlich immer häufiger unter Panikattacken und Angstzuständen litt, wusste sie zunächst gar nicht, woher das kam. „Ich habe vorher wie eine Nähmaschine gerattert, es lief immer alles super“, sagt die heute 54-Jährige. „Vorher haben mich alle dafür bewundert, wie gut ich die Balance zwischen Familie, Beruf, Haushalt und Kindern halte. Ich stand mitten im Leben und habe immer perfekt funktioniert.“ Doch das gelang ihr auf einmal nicht mehr.
Innerhalb eines Monats nahm Frauke stark ab. Sie konnte nur noch schlecht schlafen und war extrem schreckhaft. Eines nachts wurde sie wach und plötzlich war alles wieder da: Wo vorher schwarze Schatten ihre Erinnerungen getrübt hatten, war sie nun mit sämtlichen Bildern und Momenten ihrer erschütternden Kindheit konfrontiert. „Es schoss wie ein Vulkan aus mir heraus“, so die 54-Jährige. Sie wurde im Alter zwischen 3 und 10 Jahren jahrelang von einem engen Familienmitglied sexuell missbraucht. Von ihrer Mutter erfuhr sie als Kind keinen Halt. Frauke: „Es war ein Martyrium, das sich jedes Mal von neuem wiederholt hat, wenn der Verwandte zu Besuch kam.“ Als Kind hatte sie wahnsinnige Angst, die sie stets mit aller Kraft in die Tiefen ihres Unterbewusstseins zurückgedrängt hat. Doch sie konnte der Situation nicht entfliehen. Wenn sie heute kleine Kinder sieht, denkt sie manchmal darüber nach, was sie selbst in diesem Alter aushalten musste und andere Kinder ertragen.
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Trauma ins Leben integrieren
Um ihr Leben wieder in den Griff zu bekommen, suchte Frauke Hilfe bei ihrem Hausarzt und im Krankenhaus. Dort erhielt sie die Diagnose „Posttraumatische Belastungsstörung“ und bekam Beruhigungsmittel und Antidepressiva, um endlich wieder schlafen zu können. „Ich war auch in einer Psychiatrie vorstellig, aber dort wollte man mich nicht aufnehmen, da ich nicht suizidgefährdet war“, erklärt die 54-Jährige. Schließlich begab sie sich über zwei Monate in eine ambulante Angsttherapie, in der sie sich das erste Mal wirklich öffnen und ihren Heilungsprozess zulassen konnte. Anschließend folgte eine kognitive Verhaltenstherapie. Frauke: „Das alles hat geholfen, das Trauma in mein Leben zu integrieren, sodass die seelischen Wunden endlich heilen konnten.“
Nach der Therapie hörte Fraukes Suche aber nicht auf. Sie las sehr viel über ihre Erkrankung und ihr Leid und versuchte immer wieder, sich etwas Neues zu erschließen. „Es ist nicht so, dass man feststellt, was einem widerfahren ist und damit wäre es gut“, erklärt die 54-Jährige, „sondern es ist ein langer Prozess. Man fühlt sich wie ein Überlebender nach einer Naturkatastrophe und versucht verzweifelt, alles einzuordnen, was damals passiert ist.“ In ihrem Heilungsprozess stieß sie auf das Wissen indigener Völker zum Umgang mit Traumata. „Bei uns Menschen ist es wie bei den Tieren: Wir kämpfen, laufen weg oder erstarren“, erklärt Frauke. „In indigenen Kulturen gibt es Rituale, um sich davon zu befreien. Eins davon ist das ‚Zittern‘. Man zittert und schüttelt sich ab, um die gespeicherten negativen Emotionen loszuwerden.“
Mutter mit Vorwürfen konfrontiert
Zwei Mal habe Frauke ihre Mutter mit ihren Erlebnissen konfrontiert. Beim ersten Mal habe sie dabei große Wut begleitet. „Ich dachte, dass sie den Missbrauch doch bemerkt haben muss, das kann man doch nicht übersehen haben“, sagt sie. „Plötzlich bricht ein ganzes System komplett zusammen und man muss so vieles wieder in Ordnung bringen. Das ist eine Lebensaufgabe.“ Es habe ihr gut getan, die Wut loszuwerden. Der zweite Austausch mit ihrer Mutter sei sachlicher gewesen. „Sie beteuerte, nichts von dem Missbrauch gewusst zu haben. Das habe ich dann so für mich stehen lassen, weil ich endlich meinen Frieden finden und damit abschließen möchte“, so die 54-Jährige.
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Trotzdem sei das Gespräch mit ihrer Mutter ein wichtiger Schritt in ihrem Heilungsprozess gewesen. Die eigene Mutter sei in Missbrauchsfällen häufig ein Thema und in solchen Situationen käme es nicht selten zu Kontaktabbrüchen in der Familie. Aber aus ihrer Sicht bringen sie die Wut und die Vorwürfe nicht weiter. Im Gegenteil: „Dieser Zorn hat mir persönlich nur geschadet“, sagt Frauke, „es hat mich nur noch mehr belastet. Ich wollte meinen eigenen Frieden damit finden und nicht ewig in der Vergangenheit gefangen bleiben.“
Selbsthilfegruppe für sexuellen Missbrauch in Olpe
Vor vier Jahren stieß Frauke über eine Zeitungsanzeige in der Westfalenpost auf die Selbsthilfegruppe für sexuellen Missbrauch in Olpe. „Der Austausch mit anderen Menschen, die Ähnliches erlebt haben, ist sehr befreiend und gibt mir Kraft.“ In der Gruppe werde nicht nur über ernste Themen gesprochen, sondern auch gemeinsam gelacht. Um die Täter gehe es weniger: „Wir reden viel mehr über die Folgen dessen, was wir erlebt haben. Häufig geht es um Beziehungsprobleme, die eine Traumafolgestörung sind“, erklärt sie. Neben gemeinsamem Austausch finden in der Selbsthilfegruppe auch regelmäßig Schulungen, Workshops und Vorträge wie Gestalttherapie, Waldbaden und Mantra-Singen statt.
Selbsthilfegruppe sexueller Missbrauch Olpe
Wann? Einmal im Monat ab 18.30 Uhr
Wer? Betroffene von sexuellem Missbrauch beider Geschlechter
Voraussetzungen? Psychische Stabilität, Gruppenfähigkeit, Volljährigkeit
Wie viele? Derzeit 12 Mitglieder, meistens sind aber nur 5 bis 8 anwesend
Seit wann? Seit 2018
Kontakt? DRK Selbsthilfe-Kontaktstelle Olpe unter shk@kv-olpe.drk.de oder 02761 / 2643.
Nervensystem hat gelitten
Heute gebe es nur noch selten Situationen, die sie belasten. Sie habe ihr Leben wieder gut im Griff, müsse aber stets aufpassen, sich nicht zu überfordern. „Ich habe früher zu 120 Prozent gearbeitet, aber das war zu viel. Heute liege ich bei 80 Prozent“, so Frauke. Was dauerhaft gelitten habe, sei ihr Nervensystem. „Bis vor ein paar Jahren war ich permanent in einer Art Ausnahmezustand, in einem Zustand der Angst, den ich auch damals als Kind erlebt hatte. Da kam ich so schnell nicht wieder heraus, auch emotional“, so Frauke. „Heute bin ich zwar erwachsen und kann mich wehren, aber emotional war ich oft wieder in die kindliche Rolle von damals versetzt.“ Mittlerweile gehe es ihr deutlich besser. Dennoch vermeide sie Stress und versuche ein ruhiges und ausgeglichenes Leben zu führen, um nicht erneut an ihre Grenzen zu kommen.
Kraft schöpfe sie neben der Selbsthilfegruppe aus ihrer Familie, ihren Kindern und ihrem Enkelkind. „Ich bewege mich sehr gerne und intensiv in der Natur, da ich dort mein Nervensystem regulieren kann. In der modernen Welt sitzen wir nur noch vor Handys oder dem Rechner und haben den Zugang zur Natur völlig verloren. Mir hilft das sehr, um mich wieder herunterzufahren.“
Weitere Hilfsangebote bei sexuellem Missbrauch
Opferschutzportal NRW: Beratungsangebote, Prävention und Suche nach passenden Beratungsstellen
Polizeiliche Kriminalprävention der Länder und des Bundes: Informationsmaterial, Beratung und Hilfe bei sexueller Gewalt an Kindern
www.polizei-beratung.de/themen-und-tipps/sexualdelikte/missbrauch-verhindern/
Hilfe-Portal Sexueller Missbrauch: Hilfeangebote für Betroffene von sexualisierter Gewalt in Kindheit und Jugend
https://beauftragte-missbrauch.de/themen/hilfeangebote-fuer-betroffene-von-sexualisierter-gewalt
Aufwind Kreis Olpe (Caritas): spezialisierte Beratung bei sexualisierter Gewalt gegen Kinder und Jugendliche
DRK Selbsthilfe-Kontaktstelle Olpe: Ansprechpartner für alle Bereiche der Selbsthilfe im Kreis Olpe