Offenbach. Melanie ist stark übergewichtig. Die Abnehmspritze „Wegovy“ könnte ihr Leben verändern – doch es gibt eine kaum überwindbare Hürde.
Schon von weitem sieht man, dass Melanie Bahlke anders ist. Sie strahlt, doch das Laufen fällt ihr schwer. Sie hat offensichtlich Schmerzen. Allein aus dem Auto auszusteigen oder den Bürgersteig zu bewältigen, bedeutet einen enormen Kraftakt. Sie atmet angestrengt.
Die 47-Jährige ist krank, hat starkes Übergewicht – Adipositas höchsten Grades. Aktuell wiegt die 1,71 Meter große Frau etwa 170 Kilogramm – schätzt sie. Auf der Waage war Melanie Bahlke lange nicht mehr. Zu belastend und zu beängstigend sei dieser Schritt. Sie weiß, dass das viele Fett ihren Körper immer stärker kaputt macht. Sie fühlt sich hilflos, sah durch die Abnehmspritze „Wegovy“ kurz Hoffnung.
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„Ich bin groß geworden in einer Familie mit dicken Menschen“, erzählt Melanie Bahlke. „Als kleines Kind war es für mich normal, übergewichtig zu sein und andere waren eben schlank.“ Bis sie auf den ersten Menschen traf, der ihr sagte: „Du bist dick, hässlich, dumm und faul.“ Das war in der Grundschule.
Adipositas Grad 3: Melanie Bahlkes Kampf gegen Kilos und Vorurteile
Sprüche mit ähnlichem Tenor sollte sie noch viele zu hören bekommen. Irgendwann wurden Ablehnung und Stigmatisierung zum Alltag. Ihr Selbstvertrauen schwand. Die Kilos blieben.
Ihre erste Diät machte Melanie Bahlke mit acht Jahren. Der Diätplan umfasste 14 Tage, dann ging es von vorne los – zwei Jahre lang. Etliche weitere Diäten folgten. Melanie Bahlke hörte auf, sie zu zählen. Die Kilos schwanden kaum. Auch das wöchentliche Training im Fußballverein und regelmäßige Bewegung halfen nichts.
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Statt abzunehmen, entwickelte Melanie Bahlke eine Essstörung: „Durch die Diäten bekam ich im Laufe der Zeit regelrechte Angstzustände“, sagt Melanie Bahlke. Selbstironisch ergänzt sie: „Wie so ein Neandertaler, der aus Angst, zu verhungern, immer versucht, Essen um sich zu haben.“ Ihren Schmerz über die Situation versucht die 47-Jährige zu überspielen.
Ursachen für Adipositas vielfältig – auch die Gene können mitverantwortlich sein
Heute weiß Melanie Bahlke, das starke Übergewicht in ihrer Familie ist wohl genetisch bedingt. Auch ihre Tochter ist betroffen. „Melanie Bahlke ist wirklich ein erstaunlicher Fall“, bestätigt auch ihre behandelnde Ärztin Sylvia Weiner. Die Adipositas-Spezialistin ist Chefärztin der Klinik für Adipositas- und metabolische Chirurgie am Sana Klinikum Offenbach und kennt Melanie Bahlke bereits deren halbes Leben.
„Frau Bahlkes Körper stellt uns immer wieder vor Rätsel und zeigt, wie wichtig Forschung und die Entwicklung guter und neuer Stoffwechselmedikamente sind und wären.“ Adipositas-Spezialistin Weiner denkt hier etwa an die Medikamente „Wegovy“ oder „Mounjaro“, besser bekannt als sogenannte Abnehmspritzen.
Abnehmspritze „Wegovy“ kann Betroffenen beim Abnehmen helfen
Die enthaltenen Wirkstoffe Semaglutid beziehungsweise Tirzepatid greifen aktiv in den Stoffwechsel der Patientinnen und Patienten ein. Nicht nur in Studien, auch bereits in der Anwendung zeigten sich große Abnehmerfolge. Von im Schnitt 20 Prozent Gewichtsverlust in nur 36 Wochen ist zu lesen.
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Bei Melanie Bahlke wären das 35 Kilo in gut 8 Monaten – ein für sie aktuell unvorstellbarer Wert. Die Medikamente müssten, stand heute, im Fall der Fälle wohl dauerhaft eingenommen werden, um einen Jojo-Effekt zu verhindern.
Das würde Bahlke gerne in Kauf nehmen, genau wie potenzielle Nebenwirkungen – etwa Übelkeit, Verstopfung oder Durchfall. Doch Abnehmmedikamente wie etwa Wegovy gelten in Deutschland aktuell noch als sogenannte „Lifestyle-Medikamente“, sprich, die Kosten von etwa 200 Euro bis pro Monat muss jeder und jede Betroffene selbst tragen.
Selbstzahlerleistung: Zu hohe Kosten für Abnehmspritze
„Ich selbst kann es mir nicht leisten, die Abnehmspritze in Deutschland zu kaufen“, erklärt Bahlke. Vor einigen Monaten kam sie dennoch bereits für ein paar Wochen „in den Genuss“ der Abnehmspritze, wie Melanie Bahlke selbst sagt. Eine Bekannte hatte ihr eine Monatsration des Medikaments deutlich günstiger aus der Türkei mitgebracht.
Dass Adipositas-Spezialistin Weiner gleich die Gefahr von Fälschungen thematisiert, war Melanie Bahlke in dem Moment egal: „Als ich die Abnehmspritze getestet habe, hatte ich erstmals ein Gefühl von Freiheit“, erzählt Bahlke und seufzt voller Sehnsucht. „Das Zeug verändert dein Leben. Ich glaube, dass kann man sich gar nicht vorstellen, wenn man nicht selbst betroffen ist.“
Adipositas: Psychische Entlastung durch Abnehmmedikament
Einen Monat reichte die Spritze. Zehn Kilo nahm sie in dieser Zeit ab. „Aber es ging mit gar nicht so sehr um die Kilos“, sagt Bahlke. „Ich musste endlich mal nicht mehr ständig ans Essen denken. Da war kein Interesse, kein Verlangen. Als ob die Spritze in meinem Kopf einen Schalter umlegen würde.“
Kaum war die Spritze leer, war das Gefühl wieder da. Sich das Medikament dauerhaft zu kaufen, ist für Melanie Bahlke dennoch keine Option. „Das gibt meine Frührente einfach nicht her, so gerne ich das würde“, sagt sie. Und Diabetes hat die 47-Jährige – zum Glück – nicht, dann bekäme sie den Wirkstoff auf Rezept, wenn auch geringer dosiert. Ein unfaires System, wie Bahlke und Weiner finden.
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„Das ist wirklich ein großes Problem“, betont Ärztin Weiner. „Jeder, der gesundheitliche Probleme durch krankhaftes Übergewicht hat und bei dem andere Wege nicht geholfen haben, sollte die Chance bekommen, mit solchen Medikamente behandelt zu werden.“ Unabhängig vom eigenen Geldbeutel.
Auch die Deutschen Adipositas-Gesellschaft macht sich deshalb für eine Kostenübernahme des Medikaments durch die Krankenkassen stark. Ihr Präsident, Jens Aberle, ärztlicher Leiter der Sektion Endokrinologie, Stoffwechsel, Diabetologie am Universitätsklinikum Hamburg-Eppendorf (UKE) betont: „Wir hoffen, dass die rechtlichen Regelungen überarbeitet werden, sodass zumindest ein Teil der Betroffenen eine Kostenübernahme erhalten kann. Wir haben Entscheidungsträger im Gesundheitsausschuss für das Thema sensibilisiert.“
Aktuell sind nicht nur Bahlke, sondern auch ihre behandelnde Ärztin etwas ratlos. „Ihre chronisch entzündliche Stoffwechselerkrankung und das damit verbundene krankhafte Übergewicht bekommen wir einfach nicht in den Griff“, räumt Adipositas-Spezialistin Weiner ein. Nichts anderes habe bislang dauerhaft geholfen. Selbst eine Magen-Verkleinerung, brachte keinen langfristigen Erfolg.
Adipositas-Spezialistin: „Es gibt keine einfachen Lösungen“
Betroffene wie Melanie Bahlke seien eben nicht einfach dick. Dass Menschen wie sie dennoch immer wieder zu hören bekommen, sie sollen sich doch einfach mal mehr bewegen und auf die Ernährung achten, sei bitter. „So schön diese Lösung vielleicht wäre, so einfach ist das nicht“, erklärt Weiner.
Sie geht davon aus, dass Betroffene, auch Melanie Bahlke, unter anderem ein „verstelltes, ungesund hohes biologisches Normalgewicht“ haben. „Der Körper denkt, er ist normal und wird alles versuchen, eine Gewichtsabnahme zu verhindern.“ Abnehmen auf natürlichem Wege sei dadurch undenkbar. Die Forschungen zu dieser sogenannten Set-Point-Theorie laufen. Die Erkenntnisse basieren bislang aber primär auf Tierversuchen.
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Zusätzlich verhinderten bestimmte Hormone, die im Darmtrakt Betroffener gebildet werden, die Gewichtsabnahme, ergänzt Weiner. Welche das genau seien und wie stark deren Einfluss ist, sei höchst individuell. „Nicht jeder, der adipös ist, hat das gleiche Problem“, betont die Ärztin. Aber hier setzten Medikamente wie etwa „Wegovy“ an.
„Vielleicht wird die Spritze ja irgendwann doch noch zur Kassenleistung“, hofft Bahlke, die sich auch als Vorstand im Adipositas-Selbsthilfe-Verband AcSDeV engagiert. Bis dahin wird sie neben Ernährungsberaterinnen und -beratern auch ihr Umfeld und Skeptiker weiter davon überzeugen, dass im Hause Bahlke tatsächlich frisch und gesund gekocht wird, dass Fast Food eine seltene Ausnahme ist. Melanie Bahlke kämpft weiter – für sich, ihre Tochter, gegen Vorurteile und gegen die Kilos.