Berlin. Äußerlich ist sie weiblich, ihr Chromosomensatz männlich – das sollte sie verschweigen, verdrängen. Doch sie hätte Vorbilder gebraucht.

Sie ist schlank, groß, hat lange blonde Haare, weibliche Rundungen. Als sie aus dem Stall auf den Hof kommt, strahlt sie Energie und Lebensfreude aus. Vanessa ist täglich bei ihrem Hannoveraner Wallach – ein typisches Pferdemädchen. Und ein gutes Beispiel, dass das Leben nicht immer eindeutig ist – dass Geschlecht und biologisches Geschlecht nicht immer deckungsgleich sind.

Vanessa hat das männliche Y-Chromosom, wegen einer kompletten Androgenresistenz sind ihre äußeren körperlichen Merkmale aber weiblich. Äußerlich ist Vanessa eine Frau. In der Familie war das jedoch nie ein großes Thema. Die Devise lautete: Besser nicht auffallen.

XY-Frau: Mit 16 merkt Vanessa, dass sie anders ist

Dass etwas anders war als bei anderen, merkte Vanessa erst mit 16 Jahren, erzählt sie. Sie hatte bereits Brüste, die weibliche Pubertät hatte eingesetzt. Doch ihre erste Monatsblutung bekam sie nie. Auch Achsel- und Intimbehaarung blieben aus.

Während die heute 38-Jährige ihre Geschichte erzählt, spürt man allem Selbstbewusstsein zum Trotz Nervosität. Vanessa knibbelt an ihren Fingern. Die Stimme zittert leicht. Es kostet sie Überwindung, sich zu öffnen. Die Angst vor Zurückweisung sitzt tief.

„Aber es ist für mich auch ein Stück Therapie“, sagt Vanessa. „Ich bin gut, so wie ich bin. Ich möchte keine Maske mehr tragen.“ Jahrelang habe sie versucht, nicht aufzufallen, sich aber trotz eines großen Freundeskreises gerade in der Pubertät oft alleine gefühlt.

Vanessa (38) mit ihrem Pferd Lordano: Mit 16 merkt sie, dass sie aufgrund ihrer XY-Chromosomen anders ist als andere Frauen.
Vanessa (38) mit ihrem Pferd Lordano: Mit 16 merkt sie, dass sie aufgrund ihrer XY-Chromosomen anders ist als andere Frauen. © Theo Klein | Theo Klein

Arzt riet ihr, niemandem etwas zu sagen

Ohne Untersuchung bekam Vanessa als Teenagerin von der Frauenärztin ihrer Mutter Hormonta­bletten, die die Periode auslösen sollten. Als nach zwei Wochen immer noch nichts passierte, wurde Vanessa das erste Mal genauer untersucht. Was von außen nicht zu erkennen war: Ihre Vulva endet blind – wie eine Sackgasse. Eierstöcke und Gebärmutter hat sie nicht.

Also ging Vanessa zu einem Spezialisten – einem Endokrinologen. Beim Ultraschall entdeckte der Arzt in der Leistengegend die sogenannten Gonaden – embryonale Hoden, die im Körperinneren verblieben waren. Ein Gentest bestätigte den Verdacht auf komplette ­Androgenresistenz – auch bekannt als Goldberg-Maxwell-Morris-Syndrom.

„Und das solle ich am besten keinem sagen, damit ich keine Probleme bekomme“, erinnert sich Vanessa an den Rat des Arztes. Ich habe mir dabei als Teenie nicht viel gedacht. „Auch als ich ein Jahr später bei einer Kontrolle fragte, ob es nicht sinnvoll wäre, mir psychologische Unterstützung zu suchen, wurde das abgetan.“ Das Argument: Besser keine alten Wunden aufreißen.

Früher fühlte sich Vanessa oft alleine.
Früher fühlte sich Vanessa oft alleine. © Theo Klein | Theo Klein

Intersexualität: Genauso häufig wie rote Haare

Das Syndrom tritt statistisch bei einem von 20.000 Kindern auf. Insgesamt werden weltweit rund zwei Prozent der Menschen intergeschlechtlich geboren – so wie Vanessa. Davon gehen sowohl die Uno als auch die Organisation Intersex International (OII) aufgrund der aktuellen Forschungslage aus. Die Wahrscheinlichkeit, intersexuell zu sein, ist damit genauso hoch, wie rothaarig zur Welt zu kommen.

Bei Vanessas Geburt deutete nichts darauf hin, dass es sich bei ihr nicht um ein gewöhnlich entwickeltes Mädchen handelt. Die Gonaden produzierten alle nötigen Stoffe, die für Vanessas körperliche und seelische Entwicklung wichtig waren.

An­drogenresistenz: Körper wandelt Testosteron in Östrogen um

Das Sexualhormon Testosteron, auf das ihr Körper wegen der An­drogenresistenz nicht anspricht, wandelte dieser in Östrogen um, das unter anderem für das Brustwachstum sorgt. Kurz nachdem Vanessa die Diagnose erhalten hatte, wurden ihr die Gonaden entfernt. Damals das übliche Vorgehen.

Die Ärzte gingen davon aus, dass die im Bauchraum verbliebenen Hoden dort einer zu hohen Umgebungstemperatur ausgesetzt seien und damit eine erhöhte Tumor-Gefahr von etwa 25 Prozent bestünde. Neue Studien schätzen die Gefahr lediglich noch auf zwei Prozent.

„Ich bin froh, dass man mein Syndrom erst im späten Teenie-Alter entdeckt hat, als mein Körper die Pubertät bereits fast komplett durchlaufen hatte“, sagt Vanessa heute. „Seit ich keine Gonaden habe, muss ich meinem Körper die Hormone mit einem Östrogen-Gel täglich künstlich zuführen.“

Das sei schon anstrengend. Denn auch regelmäßige Kontrollen der Blut- und Leberwerte gehören dazu. Wie es für Kinder und Jugendliche sein müsse, möchte sie sich gar nicht vorstellen. „Ich würde mir so wünschen, ich hätte meine Gonaden einfach behalten können“, sagt Vanessa. „Dann hätte ich jetzt ein wirklich unkompliziertes Leben.“ Dass diese den Betroffenen heute teils immer noch entfernt würden, kann sie nicht verstehen.

Sonstige Einschränkungen hat Vanessa nicht, lediglich ein erhöhtes Osteoporose-Risiko. Zudem sind Betroffene oftmals überdurchschnittlich groß. Auch Vanessa ist mit ihren 1,84 Metern etwas größer als ihr Mann.

Eierstöcke und Gebärmutter fehlen – heute trotzdem Familienglück

Mit ihm hat Vanessa zwei Töchter, die sie adoptiert hat. „Seit ich erfahren habe, dass ich weder Eierstöcke noch Gebärmutter habe und daher nie leibliche Kinder haben werde, spürte ich den unbändigen Wunsch, eine Familie zu gründen“, erzählt Vanessa. „Das war damals ein Schock für mich und der einzige Grund, warum ich kurz geweint habe.“

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Dann habe sie funktioniert. Sich angepasst. „Rückblickend wollte ich es immer allen recht machen, hatte immer das Gefühl, mich doppelt anstrengen zu müssen“, sagt Vanessa. „Niemand sollte hinter die Fassade blicken. Niemand auch nur erahnen, dass ich anders bin – ein Alien. Alle sollten mich mögen.“ Anerkennung von außen definierte ihren Selbstwert.

Über Intersexualität austauschen: „Als Teenie so sehr Vorbilder gewünscht“

Das zu erkennen und ihr Anderssein zu akzeptieren, war ein langer Weg. Vanessa hat sich mittlerweile psychologische Unterstützung geholt, sich angeregt durch die öffentliche Gender-Debatte mit ihrer Intersexualität auseinandergesetzt. „Hätte ich früher gewusst, dass es so viel mehr Menschen wie mich gibt, ich glaube, mein Leben wäre viel entspannter gewesen“, sagt Vanessa.

„Gerade als Teenie hätte ich mir so sehr Vorbilder gewünscht“, sagt die 38-Jährige. „Eine erwachsene Person, mit der ich mich austauschen kann. Jemand, der mir zeigt: Du bist normal. Du bist gut – genau so, wie du bist.“ Das endlich mit Überzeugung zu spüren, sei ihr Ziel. „Und ich bin überzeugt, ich bin diesem Ziel bereits ein gutes Stück näher gekommen.“