Berlin. AD(H)S-Expertin Astrid Neuy-Lobkowicz ist selbst betroffen, zudem drei ihrer Kinder. Diese Tipps legt sie Frauen und Familien ans Herz.
Astrid Neuy-Lobkowicz hat ADHS – also das Aufmerksamkeitsdefizitsyndrom (ADS) samt Hyperaktivität (H). Eine Besonderheit, die sie als Stärke nutzt, wie sie sagt. Dass sie selbst von ADHS betroffen ist, realisierte sie vor gut 25 Jahren, als ihr zweites Kind die Diagnose bekam. Seither brennt sie für das Thema.
Die Fachärztin für Psychosomatik und Psychotherapie ist Mitglied im Vorstand des Bundesverbandes ADHS Deutschland und veröffentlicht nun ihr mittlerweile drittes Buch zum Thema: „Weibliche AD(H)S“ erscheint am 27. März. Im Gespräch erzählt Neuy-Lobkowicz vorab von den eigenen AD(H)S-Herausforderungen, gibt Einblicke in ihr Familienleben und wertvolle Tipps für Betroffene.
Frau Neuy-Lobkowicz, würden Sie sagen, Sie haben eine Krankheit?
Astrid Neuy-Lobkowicz: Hier scheiden sich sprachlich in der Tat die Geister. Für mich ist AD(H)S zunächst einmal eine besondere Art, zu sein. Ich bin – genau wie viele andere – neurodivers, sprich, mein Gehirn arbeitet auf besondere Weise. Immerhin sind davon 3,5 bis 5 Prozent der Menschen in Mitteleuropa betroffen. Aber AD(H)S hat ein breites Spektrum. Ich liege mit meiner Besonderheit am Anfang, am Ende des AD(H)S-Spektrums stehen schwere seelische Erkrankungen, die eine intensive Behandlung und auch Klinikaufenthalte mit sich bringen, teils bis zur Arbeitsunfähigkeit. Die Chance, mit AD(H)S eine Depression oder Angststörung zu entwickeln, liegt immerhin bei 50 Prozent.
Dass Sie selbst AD(H)S haben, realisierten Sie erst als Erwachsene.
Neuy-Lobkowicz: Und das auch nicht ganz freiwillig. Ich habe fünf Kinder – mittlerweile alle erwachsen und aus dem Haus –, und von denen haben drei AD(H)S. Das war eine ziemliche Herausforderung. Es hat mich dazu gezwungen, mich gerade als Fachärztin sehr intensiv mit dem Thema zu beschäftigen. Dabei ist mir klar geworden, dass ich selbst betroffen bin – was vielen Eltern auffällt, wenn bei ihren Kindern die Diagnose gestellt wird.
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Verhalten und Gedanken: Diagnose AD(H)S hat vieles erklärt
Gab es einen Aha-Moment?
Neuy-Lobkowicz: Ich habe ganz viele AD(H)S-typische Seiten, Symptome, Gedankengänge und Verhaltensweisen bei mir entdeckt und plötzlich viel besser verstanden, warum ich manche Dinge in meinem Leben gemacht habe oder warum ich viele Sachen auch heute noch tue. Ich lese zum Beispiel wahllos verschiedene Bücher, sauge Informationen in mich hinein und fühle mich dann erst einmal diffus und nebelig. Irgendwann kann ich mich plötzlich hinsetzen und alles ziemlich geordnet aufschreiben. Ich weiß auch nicht genau, wie ich in diesen Flow komme. Aber die Erkenntnis, dass ich AD(HS) habe, ließ mich mein Leben und mich besser verstehen. Das war wie eine Erleuchtung, auch bezogen auf meine Kindheit.
Haben Sie dafür ein konkretes Beispiel?
Neuy-Lobkowicz: Ich fand Schule rasend langweilig. Aber ich durfte im Matheunterricht – und dafür bin ich bis heute dankbar – Pullover stricken. Beschäftigt mit den schwierigsten Norwegermustern, konnte ich wunderbar aufpassen. Stillsitzen dagegen fand ich schrecklich. Alle haben gefragt, warum strickst du immer? Ich konnte das nie erklären. Erst 20 Jahre später habe ich verstanden, dass das für mich eine sehr konstruktive Lösung gegen die innere Unruhe war.
Ist das bis heute so?
Neuy-Lobkowicz: Nein, mittlerweile kann ich mich auch ohne zu sticken oder nebenbei zu kritzeln konzentrieren. Das ist auch ein Stück weit Übungssache. Aber ich habe das noch lange gemacht, beispielsweise im Medizinstudium. Irgendwann hat ein Professor gesagt, dass aus mir nie eine gute Medizinerin wird, weil ich ganz offensichtlich ohnehin kein Interesse hätte, sondern lieber stricken würde. Für diese Aussage hätte ich ihm meine Stricknadel damals am liebsten in den Bauch gerammt. Aber mit solchen Vorurteilen haben AD(H)S-Betroffene immer wieder zu kämpfen, müssen einen Umgang damit finden.
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Was ist Ihre Strategie?
Neuy-Lobkowicz: Ich kann heute für mich selbstbewusst sagen, dass ich froh bin, AD(H)S zu haben. Ich würde es niemals hergeben. Diese Erkenntnis und Akzeptanz helfen ungemein. AD(H)S hat mich zu der Person gemacht, die ich bin. Es trägt mich, fördert viele Ideen. Viele Sachen in meinem Leben hätte ich ohne AD(H)S nicht gemacht. Durch mein AD(H)S kann ich Reize zwar schlechter filtern, aber so auch viel mehr erkennen. AD(H)Sler sind meist empathischer als andere – ein großer Vorteil in meinem Job. Ich werde nicht müde, zu sagen, wie viele Stärken Menschen mit AD(H)S haben: Sie sind intuitiv, kreativ, haben viele neue Ideen. Es ist wichtig, das nicht nur Betroffenen, sondern auch dem Umfeld zu vermitteln.
Typische Symptome: AD(H)S bedeutet einen ständigen Kampf gegen das Chaos
Gleichzeitig bleibt das Leben mit AD(H)S aber auch herausfordernd, oder?
Neuy-Lobkowicz: AD(H)S zu haben, bedeutet unweigerlich Stress. Denn Chaos entsteht ganz von selbst, von jetzt auf gleich. Der unbändige Enthusiasmus führt auch bei mir gerne dazu, mir zu viel aufzuhalsen. Darunter leidet mein Mann öfter, weil er dann aushalten muss, dass wir weniger Zeit miteinander haben und ich gestresst bin. Außerdem denken gerade AD(H)S-lerinnen oft zu viel. Sie werden von der Fülle ihrer Eindrücke und Informationen oft schachmatt gesetzt. Dann braucht es erst einmal Zeit, um all die vielen Eindrücke und Reize zu sortieren. Hinzu kommt – auch bei mir – eine immer scharf gestellte Alarmanlage, mit der man sich schnell gekränkt und verletzt fühlt. Eventuell kommt auch noch Impulsivität ins Spiel, also eine überschießende Reaktion auf empfundene Kränkungen oder vermeintliche Angriffe. Das kann dann wie ein emotional explodierender Schnellkochtopf sein.
Das muss doch gerade im Familienalltag zwischen Ihnen und drei AD(H)S-Kindern unweigerlich zu Konflikten geführt haben.
Neuy-Lobkowicz: Definitiv. Ich gehörte wohl zu der Gruppe von Frauen, die es trotz AD(H)S geschafft haben, in Kindheit, Jugend und auch noch im jungen Erwachsenenalter dank einer guten Intelligenz und einem unterstützenden Elternhaus ihr Leben zu meistern, sich anzupassen. Doch dann kommen die Kinder. Die Mütter sitzen oft durch die Kinder fremdbestimmt, mit wenig Freiräumen, durch Schlafmangel gestresst mit ihren Kindern zu Hause. Oft haben die Kinder, wie bei mir auch, noch AD(H)S. Und nun fehlt es zu Hause an Regeln und Tagesstruktur, und man wird dann mit dem eigenen Chaos jeden Tag konfrontiert. Und dann kann es sein, dass Frauen sich als Monster erleben, weil sie chronisch unzufrieden sind, keine Rückzugsmöglichkeiten haben, viel zu wenig für sich machen können und dann impulsiv die Kinder anschreien. Dann haben sie ein schlechtes Gewissen, weil sie doch eigentlich gute Mütter sein wollen. Das kann ein Teufelskreis sein.
Mütter mit AD(H)S machen sich oft schwere Vorwürfe
Davor waren also auch Sie als Psychotherapeutin nicht gefeit?
Neuy-Lobkowicz: Ehrlicherweise ja. Ich habe mir auch selbst lange sehr übel genommen, dass ich manchmal ausgerastet bin. Aber leider sind AD(H)S-Kinder besonders gut darin, die richtigen Knöpfe bei ihren AD(H)S-Müttern zu drücken. Doch das ist in den meisten Familien ein gut gehütetes Geheimnis, weil das Thema als extrem schamhaft erlebt wird. Zum Glück konnten wir als Familie Wege finden, damit es zwischen uns nicht mehr eskaliert: aus der Situation gehen, Rückzugsräume schaffen, Dinge nicht mehr automatisiert persönlich nehmen. Wir haben verstanden, dass wir uns alle nichts Böses wollen. Für andere können auch AD(H)S-Medikamente echte Gamechanger sein.
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Klingt aber, als hätte es durchaus mal Extremsituationen gegeben.
Neuy-Lobkowicz: An eine Situation kann ich mich besonders gut erinnern. Mein Sohn, damals etwa sieben Jahre alt, hatte mich den ganzen Tag gereizt, nicht getan, was er sollte, seine Schwestern geärgert, regelrecht massakriert. Als ich dazwischen bin, haben wir uns gerauft und ich habe versucht, ihn festzuhalten. Da hat er mich angespuckt. Ich habe ihn dann aus einem Reflex heraus zurückgeboxt. Das tat mir natürlich unendlich leid, und wir haben das auch im Nachgang geklärt. Aber ich habe mich auch immer mal wieder gefragt, wie es passieren konnte, dass ich meinen Sohn, den ich doch so sehr liebe, einfach boxen kann.
Wie blicken Sie heute auf die Situation zurück?
Neuy-Lobkowicz: Trotz aller Selbstvorwürfe, die ich mir als Mutter gemacht habe, zeigt sich: Keine liebende Mutter möchte die Kontrolle über sich verlieren, aber es kann dann doch passieren. Die Situation macht für mich deutlich, wie wichtig gerade bei AD(H)S Reflexion, Training und auch der Willen, permanent an sich zu arbeiten, sind. Das versuche ich neben vielen Grundlagen und Fachwissen auch in meinem Buch zu vermitteln. Und das Schöne ist, es lohnt sich. Nicht nur ich, alle meine Kinder sind heute erfolgreich im Job, führen ein selbstbewusstes und stabiles Leben – ob mit oder ohne AD(H)S. Und dass meine drei AD(H)S-Kinder einen so guten Weg ins Leben gefunden haben, das ist das größte Geschenk für mich.