Berlin. Konzentrationsprobleme, Ablenkbarkeit, innere Unruhe – typisch für ADHS. Doch es kann auch etwas anderes hinter den Symptomen stecken.
ADHS rückt immer mehr ins Bewusstsein – sowohl bei Ärztinnen, Ärzten und Behandlern als auch bei der Allgemeinbevölkerung. Doch nach wie vor ist die Dunkelziffer hoch. So sind zwischen zwei und drei Prozent der Erwachsenen in Deutschland von der Aufmerksamkeitsdefizit- und Hyperaktivitätsstörung betroffen. Laut der Deutschen Gesellschaft für Psychiatrie und Psychotherapie, Psychosomatik und Nervenheilkunde (DGPPN) ist davon aber nicht einmal jeder Hundertste diagnostiziert.
Das liegt auch daran, dass die Diagnosestellung – insbesondere bei Mädchen und Frauen – nicht immer leicht ist. Teilweise haben die typischen ADHS-Symptome auch andere Ursachen. Dann muss unter Umständen auch an ein sogenanntes „Pseudo-ADHS“ gedacht werden.
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Wichtig: „Pseudo-ADHS“ ist kein medizinischer Begriff und wird nicht immer im selben Kontext genutzt. Alternativ ist in Fachpublikationen teilweise auch von „sekundärer ADHS“ die Rede. Gemeint ist dabei ein mit ADHS vergleichbares Gesamtbild, ohne dass tatsächlich eine ADHS-Diagnose gestellt werden kann. In der Wissenschaft wird dann meist die Bezeichnung „Hirnorganisches Psychosyndrom“ genutzt.
Pseudo-ADHS oder sekundäre ADHS? Viele Bezeichnungen für dasselbe Krankheitsbild
Am Ende sei es nicht so wichtig, wie genau man es nennt, meint Alexandra Philipsen, Chefärztin der Klinik und Poliklinik für Psychiatrie und Psychotherapie am Universitätsklinikum Bonn. Wichtig sei, sich den Unterschied der Entstehung bewusst zu machen. „Auch für die Bezeichnung sekundäre ADHS haben wir uns in der Wissenschaftswelt schon Schelte eingefangen“, sagt Philipsen.
Pseudo-ADHS beziehungsweise sekundäre ADHS wird unter anderem von Philipsen als das Auftreten einer der Aufmerksamkeitsdefizit- und Hyperaktivitätsstörung ähnlichen Symptomatik nach organischen Verletzungen definiert. Diese können beispielsweise folgende Ursachen haben:
- Schädel-Hirn-Trauma
- Schlaganfall
- Geburtskomplikationen wie Sauerstoffunterversorgung
- entzündliche Hirnerkrankungen
- Stoffwechselstörungen
- Vergiftungen
- Fieberkrampf
- familiäre Epilepsien
So haben laut einer Studie, die bereits 2018 in der Fachzeitschrift JAMA Pediatrics veröffentlicht wurde, Kinder nach einem frühkindlichen Schädel-Hirn-Trauma ein erhöhtes Risiko für eine sekundäre ADHS. Generell sei es bei der Diagnosefindung wichtig, sich die Ursachen für etwaige Beeinträchtigungen genau anzuschauen, so Philipsen.
Philipsen nennt folgendes Beispiel: „Stellen Sie sich vor, Sie hatten ein Schädel-Hirn-Trauma – etwa durch einen Motorradunfall. Danach haben Sie eine Symptomatik mit Aufmerksamkeitsproblemen, Impulsivität und innerer Unruhe.“ Das sei zwar nicht häufig, käme aber durchaus vor.
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ADHS: Motorradfahrer häufig betroffen
Betroffene würden dann oft „deskriptiv in allen Fragebögen und Analyseverfahren die Kriterien für eine ADHS erfühlen“, so die Spezialistin. „Aber man weiß, die Ursache war eben dieser Unfall – Stellt sich die Frage: Wie nennen wir das jetzt?“ Denn von einer Entwicklungsstörung, wie es ADHS sei, könne eben nicht gesprochen werden, wenn die Symptome nicht bereits seit Kindertagen bestehen.
Erschwerend hinzu kommt jedoch: Nicht immer kann etwa bei Schädel-Hirn-Traumata ausgeschlossen werden, dass zuvor bereits ein nicht diagnostiziertes ADHS bestand. „Gerade bei Motorradfahrern ist eine ADHS beispielsweise gar nicht so selten“, erklärt Philipsen. ADHS gehe mit riskanten Sportarten einher.
In der Übersichtsarbeit „Aufmerksamkeitsdefizit-Hyperaktivitätsstörung im Erwachsenenalter“, veröffentlicht im Deutschen Ärzteblatt, heißt es dazu: „Eine positive Familienanamnese und fehlende anamnestische Hinweise (mit Blick auf die Krankheitsgeschichte a.d.R.) auf diskrete Hirnfunktionsstörungen plädieren für eine primäre ADHS.“ Sonst sei eher von einer sekundären ADHS auszugehen.
In beiden Fällen kann Betroffenen entsprechende verhaltens- und psychoedukative Unterstützung helfen, besser mit den Auswirkungen umzugehen. Zudem kann nach präziser Abklärung und guter Aufklärung auch über unterstützende Medikamente nachgedacht werden – etwa Präparate mit dem Wirkstoff Methylphenidat. Dazu gehört auch das wohl bekannteste ADHS-Medikament namens Ritalin. Allerdings gibt es auf dem Markt mittlerweile zahlreiche Alternativen, die individuell besprochen werden sollten.
Typische Symptome: Nicht immer muss es eine Form von AD(H)S sein
Zusätzlich gibt es noch weitere Situationen, in denen Menschen Symptome aufweisen, die auch bei ADHS vorliegen, ohne dass es sich um eine ADHS im engeren Sinne handelt. Hier wird dann aber auch nicht unbedingt von „Pseudo-ADHS“ oder „sekundärer ADHS“ gesprochen, sondern eher von Symptom-Überlappung:
- Stress und Angst (gerade wenn sie stark ausgeprägt sind und länger anhalten)
- Depressionen
- Angststörungen
- Trauma
- Borderline-Störung
- Schlafmangel
- Schlafapnoe-Syndrom mit nächtlichen Atempausen
- Umweltfaktoren, wie eine chaotische, wenig strukturierte Umgebung
- Medikamentenmissbrauch
- Drogenkonsum
Egal um welche Probleme es sich handle, spätestens wenn diese das eigene Leben beeinträchtigen, sollte einmal genauer geschaut werden, was dahinter stehen könnte, mahnt Philipsen. Wichtig sei dabei, dass die Diagnose – ob am Ende ADHS, Pseudo-ADHS oder etwa ganz anderes – sorgfältig durch qualifiziertes, medizinisches Fachpersonal erfolge, um am Ende die richtige Unterstützung und Therapie zu bekommen.
„Spätestens in zehn bis 20 Jahren werden wir vermutlich ohnehin ganz andere Diagnosesysteme haben, andere Verfahren, andere Namen“, gibt die ADHS-Spezialistin zu bedenken. „Wir werden mehr auf die Mechanismen schauen, die hinter bestimmten Problemen und Symptomen stecken.“ Dann werde es vielleicht ein „Emotional-instabiles-Syndrom“ und ein „Aufmerksamkeitssyndrom“ geben.