Berlin. Sucht und ADHS treten häufig zusammen auf. Warum viele Betroffene zu Alkohol und Co. greifen und was Sie gegen den Drang tun können.

Die Zahlen sind gruselig: Fast jeder zweite Süchtige hat eine sogenannte Aufmerksamkeitsdefizit-Hyperaktivitätsstörung (ADHS), schätzen Forscher. Die Betroffenen trinken, rauchen oder schniefen, um endlich das ständig brummende Gehirn zum Schweigen zu bringen.

Sie nutzen Alkohol, Kokain, Nikotin oder Cannabis unbewusst als Medikamente. Wollen die Betroffenen ihre Sucht besiegen, muss auch ihr ADHS erkannt und behandelt werden – sonst ist ein Scheitern oft vorprogrammiert.

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ADHS: Wie macht es sich bemerkbar?

ADHS ist, sehr verknappt gesagt, eine Störung im Dopaminhaushalt des Gehirns. Dopamin ist der Nervenbotenstoff, der für Konzentration und Lernen zuständig ist – und sorgt dafür, dass wir uns belohnt fühlen. Menschen mit ADHS fällt es deshalb schwer, sich zu konzentrieren, vor allem auf Dinge, die sie nicht wirklich interessieren. „Reiß Dich mal zusammen“ funktioniert bei ihnen nicht. ADHSler sind schnell gelangweilt und ständig auf der Suche nach etwas Neuem, Aufregendem. Eben den Dingen, die das Dopaminsystem kitzeln.

Autorin Gaby Guzek ist Wissenschaftsjournalistin und Coach. In unserer Serie „Raus aus der Sucht“ beleuchtet sie verschiedene Süchte und Wege aus der Abhängigkeit.
Autorin Gaby Guzek ist Wissenschaftsjournalistin und Coach. In unserer Serie „Raus aus der Sucht“ beleuchtet sie verschiedene Süchte und Wege aus der Abhängigkeit. © Carmen Wilhelmer | Carmen Wilhelmer

Auch Suchtmittel kurbeln das Dopamin kräftig an. Damit greifen Drogen genau da in den Hirnstoffwechsel ein, wo es bei Menschen mit ADHS mangelt. Viele Menschen mit ADHS beginnen bereits als Jugendliche stark zu rauchen. Kein Wunder: Nikotin regt an, fördert die Konzentration und weckt Wohlgefühle. Alles Mangelware für Menschen mit ADHS.

ADHS-Betroffene und Drogen: Woher kommt der Drang zu Suchtmitteln wie Alkohol?

Auch Alkohol ist für diese Betroffenen sehr verführerisch. Mit steigendem Promillepegel verstummt endlich dieses ständige Geplapper im Kopf, wie Menschen mit ADHS ihren Zustand beschreiben. Ihr Problem: Ein ADHS-Hirn kann Umweltreize nicht filtern. Es findet das Klappern eines Teelöffels am Nachbartisch genauso wichtig, wie die Unterhaltung mit dem Freund oder der Freundin. Das ist unglaublich anstrengend – umso näher liegt dann der Griff zum „Entspannungsglas“.

Geradezu perfekt für den gestörten Dopaminhaushalt eines ADHS-Betroffenen sind Aufputschmittel wie Amphetamine oder Kokain. Paradoxerweise putschen diese Drogen die Betroffenen nicht ins Unendliche auf. Im Gegenteil: Solange diese Drogen wirken, verspüren die Betroffenen endlich eine ruhige Klarheit im Kopf, können sich konzentrieren und sind ausgeglichen. Medikamente, die bei ADHS eingesetzt werden, sind auch genau das: Amphetamine. Nur eben legale.

Alkohol hilft ADHS-Betroffenen scheinbar, die ständigen Umwelt-Reize zu dämpfen. Ein Abrutschen in die Sucht ist nicht selten.
Alkohol hilft ADHS-Betroffenen scheinbar, die ständigen Umwelt-Reize zu dämpfen. Ein Abrutschen in die Sucht ist nicht selten. © iStock | sorbetto

Mit ADHS von einer Drogensucht in die nächste

Jugendliche mit ADHS treibt noch etwas anderes zu Glimmstängel oder Flasche: der soziale Aspekt. Oft genug sind die Betroffenen eigentlich Außenseiter, ecken ständig an, sind frustriert und sozial isoliert. Wer aber gemeinsam kifft oder trinkt, gehört irgendwie dazu – so werden Drogen zum sozialen Kitt, der den Betroffenen sonst fehlt. Die Dusche für die Hirnchemie gibt es dann als Bonus obendrauf.

Menschen mit ADHS sind sehr impulsiv. Alles dreht sich um die Suche nach dem möglichst schnellen Dopaminkick – ihr Gehirn kann nicht anders. Argumente wie „Du solltest weniger rauchen, du schadest dir damit“ verfangen bei Menschen mit ADHS deshalb noch weniger als bei anderen Süchtigen.

Hat sich ein ADHSler einmal von einer verabschiedet, tauscht er sie häufig rasch gegen die nächste ein, das dann aber auch extrem. So qualmen viele lange wie ein Schlot, um dann zum militanten Nichtraucher zu werden – beginnen aber exzessiv zu trinken oder zu koksen.

Sucht und ADHS sind so eng miteinander verschwistert, dass Betroffene fast zwölf Jahre früher sterben als der Durchschnitt. Zwar nicht allein aufgrund von Drogenkonsum, aber eben beispielsweise auch wegen Krankheiten oder Unfällen, die Rauchen oder Alkoholsucht mit sich bringen.

Vorsicht bei dieser ADHS-Diagnose

Das Problem: Viele Betroffene wissen gar nicht, dass sie ADHS haben – das aber behandelt werden muss, wenn der Suchtausstieg dauerhaft klappen soll. Schätzungen zufolge wird nur jeder zehnte Erwachsene mit ADHS auch wirklich diagnostiziert.

Noch schlimmer: Einige erhielten die Diagnose zwar bereits als Kind, ihnen wurde aber gesagt: „Das verwächst sich später wieder“ – was aber einfach nicht stimmt. Die Symptome ändern sich nur und werden noch schwerer greifbar. Klischees von vorgestern sorgen leider auch dafür, dass vor allem Mädchen durch das Raster fallen. Sie sind oft kleine Träumerinnen, still und unauffällig, und haben mit dem „nervigen Zappelphilipp“ rein gar nichts gemein.

Nun hat das Thema ADHS in den letzten Jahren sehr viel öffentliche Aufmerksamkeit bekommen – Gott sei Dank, muss man sagen. Trotzdem gibt es noch immer viel zu wenig Anlaufstellen, Diagnosemöglichkeiten oder gar Therapieplätze. Deshalb: Wer den Verdacht hat, vielleicht selbst ein ADHS zu haben, muss hartnäckig sein und sein Schicksal selbst in die Hand nehmen.

Schnell-Check ADHS: Bin ich selbst betroffen?

Sicher ist: Kein Schnell-Check oder Online-Fragebogen kann die medizinische Diagnose beim Arzt ersetzen. Dennoch können Sie anhand bestimmter Fragen an sich selbst herausfinden, ob Sie vielleicht typische Verhaltensweisen von ADHS-Betroffenen aufweisen:

  • Fällt es Ihnen schwer, sich zu konzentrieren – vor allem auf Dinge, die Sie nicht wirklich interessieren?
  • Schieben Sie als Prokrastinierer Dinge endlos auf – bis es fast zu spät ist und erledigen dann alles in Rekordzeit?
  • Gibt es anderseits Sachen, in die Sie sich so richtig verbeißen können, wenn diese Sie faszinieren?
  • Fällt es Ihnen schwer, Ihren Tag zu planen? Verpassen Sie häufig mal den Bus, die Bahn oder sind generell bei Terminen unpünktlich?
  • Fällt es Ihnen schwer, Dinge zu priorisieren?
  • Vergessen Sie häufiger mal zu essen – oder essen Sie sehr unregelmäßig, weil Sie Ihren Hunger gar nicht wirklich spüren?
  • Sind Sie ständig auf der Suche nach irgendwas wie die Schlüssel oder das Portemonnaie?
  • Fühlen Sie sich oft wie getrieben und unruhig?
  • Haben Sie Schwierigkeiten, sich bei Hintergrundgeräuschen auf Gespräche zu konzentrieren?
  • Wippen Sie auch in Ruhe mit den Beinen oder müssen ständig ihre Finger bewegen und mit Gegenständen herumspielen?
  • Sieht es bei Ihnen daheim aus, wie in Ihrem Kopf: chaotisch?
  • Sind Sie sammelwütig („das kann ich bestimmt noch mal irgendwann gebrauchen“)?
  • Fühlen Sie sich schnell angegriffen?
  • Sind Sie schnell gelangweilt?
  • Rutscht Ihre Stimmung schnell in den Keller und Sie fühlen sich minderwertig und resigniert?
  • Haben Sie wenig bis keine Freunde?
  • Haben Sie beruflich bereits so einige Umbrüche und Neustarts hinter sich?

Nun schiebt jeder von uns sicherlich unangenehme Tätigkeiten auf. Auch die eigenen vier Wände sehen nicht bei jedem aus, wie aus „Schöner Wohnen“. Wenn aber so einige Punkte aus der Liste auf Sie zutreffen, sollten Sie doch mal genauer hinsehen. Hier finden Sie zusätzlich einen Selbsttest, der auf den internationalen wissenschaftlichen Diagnosekriterien beruht.

Zur Person

  • Gaby Guzek ist seit mehr als 30 Jahren Fachjournalistin für Wissenschaft und Medizin.
  • Sie arbeitete nach ihrem Studium unter anderem bei der „Frankfurter Allgemeinen Zeitung“ und der Fachzeitschrift „Die Neue Ärztliche“. Jahrelang selbst von schwerer Alkoholsucht betroffen und mit den Therapiemöglichkeiten unzufrieden, begann sie, sich intensiv mit dem Phänomen Sucht auseinanderzusetzen. 2020 veröffentlichte sie im Eigenverlag ihr Buch „Alkohol adé“* und steht heute als Coach unter gaby-guzek.com und in ihrem Forum alkohol-ade.com Alkoholsüchtigen zur Seite.
  • Ihr aktuelles Buch „Die Suchtlüge. Der Mythos von der fehlenden Willenskraft: Wie Sucht im Hirn entsteht und wie wir sie besiegen“ ist bei Heyne erschienen.

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Der Mythos von der fehlenden Willenskraft: Wie Sucht im Hirn entsteht und wie wir sie besiegen. HEYNE Verlag, Taschenbuch mit 224 Seiten, 13 Euro

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