Berlin. Sucht entsteht im Kopf. Wie das abläuft, was für Glückskicks sorgt und was das mit Autobahnen zu tun hat, erklärt Expertin Gaby Guzek.

Wer süchtig ist, hat schlicht einen schwachen Willen. Sonst würde er ja aufhören, heißt es. Das ist Unfug. hat nichts mit Willens- oder Charakterschwäche zu tun, weiß die Forschung heute. Sie kann detailliert erklären, was sich im Kopf von Abhängigen abspielt.

Wer verstanden hat, was da im Oberstübchen passiert, kann mit seiner Sucht völlig anders umgehen, denn dann hat sich auch das Thema Schuld und Scham erledigt. Ein Diabetiker schämt sich ja auch nicht für seinen ständigen Süßhunger – warum auch? Nicht Willensschwäche treibt ihn zu Schoki und Torte, sondern sein angeschlagener Stoffwechsel. Das ist bei Süchtigen nicht anders.

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Sucht im Hirn: Wie Dopamin unser Belohnungssystem beherrscht

„Ich platz gleich vor Stolz!“ Garantiert erinnern Sie sich an einen solchen Moment in Ihrem Leben. Jemand hat Sie dick gelobt oder Sie haben einen Riesenerfolg eingefahren. Das kann Jahre her sein, aber das sitzt, richtig? Das verdanken Sie der Biochemie in Ihrem Kopf. Genauer gesagt dem Dopamin.

Den Namen kennen Sie wahrscheinlich sogar. Dopamin ist ein Nervenbotenstoff, der dafür zuständig ist, Informationen im Gehirn zu verbreiten. Von diesen sogenannten Neurotransmittern gibt es einen ganzen Haufen, etwa 100 kennt man heute. Jeder hat eine andere Aufgabe. Dopamin hat gleich zwei Jobs: Es löst ein Gefühl von tiefer Belohnung und Freude aus – und sorgt gleichzeitig dafür, dass wir uns etwas merken können.

Autorin Gaby Guzek ist Wissenschaftsjournalistin und Coach. In unserer Serie „Raus aus der Sucht“ beleuchtet sie verschiedene Süchte und Wege aus der Abhängigkeit.
Autorin Gaby Guzek ist Wissenschaftsjournalistin und Coach. In unserer Serie „Raus aus der Sucht“ beleuchtet sie verschiedene Süchte und Wege aus der Abhängigkeit. © Carmen Wilhelmer | Carmen Wilhelmer

Normalerweise müssen wir uns schon ein wenig anstrengen, bevor das Dopamin sprudelt. Unsere Urahnen beispielsweise tobten Kilometer durch den Wald, bevor sie vielleicht einen Busch mit leckeren Beeren entdeckten. Gierig stillten sie ihren Hunger, ihr Dopamin schoss in die Höhe. Das sorgte auch dafür, dass unsere Vorfahren sich sehr genau merkten, wie der Beerenbusch aussah und wo er wuchs.

Einige Forscher meinen, ohne Dopamin gäbe es uns gar nicht mehr. Die ewige Jagd nach dem Glückskick durch Dopamin, verbunden mit dem Lerneffekt, hat das Überleben auch unserer Spezies gesichert. Weil das Ganze so gut funktioniert, sind nicht nur Essen, sondern gleich alle Überlebensfunktionen an das Dopamin gekoppelt. Allen voran: Sex.

Alkohol, Zigaretten & Co. sorgen ohne Aufwand für den Glückskick

Trotzdem mussten sich unsere Urahnen immer irgendwie anstrengen, um an ihre Dopamindusche zu kommen. Sportler müssen das heute noch, bevor sie auf das Siegerpodest steigen dürfen. Wie praktisch ist es, das Dopaminhoch auch auf dem Sofa zu erreichen. Genau das machen Suchtmittel. Alkohol, Zigaretten aber auch die sozialen Medien oder Online-Spiele verpassen unserem Hirn einen Dopaminkick. Da Dopamin auch für das Lernen zuständig ist, merkt sich unser Oberstübchen sehr rasch, wer da für den Glückskick gesorgt hat.

Das Ganze Dopamin-Glücks-Thema spielt sich in einer entwicklungsgeschichtlich uralten Hirnregion ab: im „Reptiliengehirn“ Es steuert sogar Dinge, die sich komplett unserem Willen entziehen wie etwa die Herzfrequenz oder Darmbewegungen.

„Raus aus der Sucht“: Lesen Sie jede Woche einen neuen Teil unserer Serie.
„Raus aus der Sucht“: Lesen Sie jede Woche einen neuen Teil unserer Serie. © iStock | istock; ZRB

Unser Verstand und unser rationales Denken finden in einer ganz anderen Hirnregion statt: im sogenannten präfrontalen Cortex, hinter der Stirn. Hat sich die Sucht einmal im „Reptilienhirn“ eingenistet, zieht der Verstand in der Regel einfach den Kürzeren. Es interessiert das Gehirn nicht, ob es eigentlich schwachsinnig ist, sich krebserregenden Rauch in die Lungen zu ziehen oder leberzerstörenden Alkohol in sich hineinzuschütten. Der Wunsch nach dem Dopaminkick ist stärker.

Sucht im Kopf – gleiches Prinzip wie beim Autofahren

Als wäre das alles noch nicht genug, entsteht durch ständigen Suchtmittelmissbrauch im Gehirn eine echte Autobahn. Eigentlich wieder ein ziemlich cleveres Prinzip, beim Thema Sucht allerdings ein riesiger Stolperstein, wenn es ums Aufhören geht.

Hirnnerven sind untereinander verknüpft, theoretisch sind alle gleichrangig miteinander verbunden. Aber eben nur theoretisch. Es gibt durchaus Nervenverknüpfungen, die schneller und besser funktionieren als andere. Das sind die Autobahnen im Hirn. Alles, was wir täglich tun und üben, formt genau solche Schnellstraßen. Wir tun viele Dinge, ohne groß darüber nachzudenken.

Das Hirn entwickelt sich ständig weiter – je nachdem, was wir häufig tun, was wir erlernen, welche Fähigkeiten wir oft nutzen. Fachsprachlich heißt diese Fähigkeit Neuroplastizität. Ihr verdankt ein Schlaganfallpatient, nach entsprechendem Training wieder sprechen zu können – obwohl doch die ehemals zuständigen Hirnnerven abgestorben sind. Das geht, weil sich das Hirn neu verkabeln kann. Neue Nervenautobahnen entstehen.

Glücksgefühle im Kopf: Lieber durch Sport und gute Beziehungen erzeugen als durch den „Belohnungsdrink“ am Abend.
Glücksgefühle im Kopf: Lieber durch Sport und gute Beziehungen erzeugen als durch den „Belohnungsdrink“ am Abend. © Getty Images/iStockphoto | Sewcream

Der Neuroplastizität verdanken Kleinkinder, laufen zu lernen. Der Weg dorthin ist hart: Alle möglichen Bewegungsabläufe ausprobieren, immer wieder hinfallen, aufstehen – und von vorne. Das Gehirn erprobt, wie es funktioniert, „einen Fuß vor den anderen“ zu setzen. Oder denken Sie ans Autofahren. Nach einiger Zeit steht Ihr Fuß bereits in Millisekunden auf der Bremse, wenn Ihre Augen eine Gefahr wahrgenommen haben. Auch das ist so eine Autobahn im Kopf. Unter dem Mikroskop sind solche Autobahnen sogar an ihrer Form erkennbar.

Autofahren ohne Nachdenken ist klasse. Sucht ist Mist. Und doch beruhen beide auf demselben Prinzip: automatisierten Abläufen im Kopf, über die wir nicht groß nachdenken und die sich teilweise sogar auch unserem Bewusstsein komplett entziehen. Und die sich im Falle der Sucht verselbständigen.

„Belohnungsdrink“ am Abend überhaupt nicht harmlos

Wenn nach Feierabend beispielsweise immer der „Belohnungsdrink“ winkt, reicht es irgendwann, nur den Computer runterzufahren – und der Suchtrennwagen startet. Der Anlass „Computer aus“ hat mit dem Alkohol gar nichts zu tun, das Gehirn hat sich diese Abläufe aber sehr genau eingeprägt. Steht doch am Ende der Kette die Dopamindusche durch den Drink. Das läuft komplett unbewusst und trotzdem übermächtig.

Das Suchtgedächtnis kennt keine Logik. Orte können genauso triggern wie Situationen, bestimmte Menschen, Lieder, Speisen, sogar Farben und Gerüche. Dem Hirn ist das völlig egal. Hat es die Verknüpfung zwischen einer Sache oder Situation und einem Suchtmittel oft genug erlebt und bekommt am Ende stets seinen Dopaminkick, baut es eine Autobahn. Und die ist bitte zu befahren. Von A bis Z. Darauf pocht unser Oberstübchen. Und der Verstand? Der spielt dabei dann keine Rolle mehr.

Zur Person

  • Gaby Guzek (56) ist seit mehr als 30 Jahren Fachjournalistin für Wissenschaft und Medizin.
  • Sie arbeitete nach ihrem Studium unter anderem bei der „Frankfurter Allgemeinen Zeitung“ und der Fachzeitschrift „Die Neue Ärztliche“. Jahrelang selbst von schwerer Alkoholsucht betroffen und mit den Therapiemöglichkeiten unzufrieden, begann sie, sich intensiv mit dem Phänomen Sucht auseinanderzusetzen. 2020 veröffentlichte sie im Eigenverlag ihr Buch „Alkohol adé“* und steht heute als Coach in ihrem Forum alkohol-ade.com Alkoholsüchtigen zur Seite.
  • Ihr aktuelles Buch „Die Suchtlüge. Der Mythos von der fehlenden Willenskraft: Wie Sucht im Hirn entsteht und wie wir sie besiegen“ ist bei Heyne erschienen.

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Gaby Guzek: Die Suchtlüge
Der Mythos von der fehlenden Willenskraft: Wie Sucht im Hirn entsteht und wie wir sie besiegen. HEYNE Verlag, Taschenbuch mit 224 Seiten, 13 Euro

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