Hollywood. . Wer hat an der Uhr gedreht? In Hollywood dominieren in diesem Jahr Filme, die an die Anfangstage des Kinos erinnern, vom französischen Stummfilm „The Artist“ bis zur Hommage an die Pioniere der bewegten Bilder in Scorseses 3D-Märchen „Hugo Cabret“.
Wer an diesem Sonntag die Oscar-Nacht stilecht verbringen möchte, der sollte den Nierentisch ins Wohnzimmer schieben, den Käseigel arrangieren und einen Eckes Edelkirsch auf diesen entzückenden Frackträger trinken, der mit so einem unverschämten Na-Sie-wissen-schon-Lächeln gesegnet ist wie weiland Errol Flynn. Wie war doch gleich der Name? Jean Dujardin.
Ein Stummfilmstar als heißester Anwärter auf den höchsten Preis der Filmindustrie, dazu noch Franzose? Opa Buster würde wahrscheinlich überrascht die Augenbrauen hochziehen, wenn er in dieser Sonntagnacht einen Blick ins Kodak Theatre, pardon ins Hollywood & Highland Center von Los Angeles werfen könnte. Nach der Pleite des Fotoriesen musste ein neuer Name her. Die alte Technik, sie hat in Amerika ausgedient. Und trotzdem sieht jeder zweite Favorit im Oscar-Rennen diesmal so aus, als könne man die alten Filmrollen nur noch auf einem historischen 16-mm-Projektor abspielen.
Konnte es bislang nicht schnell genug in die Zukunft gehen, mit noch mehr 3D-Technik, CGI-Methode und Performance-Capture-Verfahren, wird in diesem Jahr machtvoll der Rückwärtsgang eingeworfen. Das Kino besinnt sich auf die Zeit, als die Bilder gerade laufen und allmählich sprechen lernten. Der neue Trend in Hollywood heißt Nostalgie. Nicht nur auf der Leinwand. Das amerikanische Showbiz hat sich gerade eine Retro-Kur verordnet. Mit dem Ergebnis, dass junge Stars wie Lana del Rey beispielsweise aussehen, als hätten sie den Friseur von Lauren Bacall und singen, als mussten sie das Frauenbild der 60er bloß mit ein bisschen Lippenstift auffrischen: schön, schwach, schmachtend. Wer in Hollywood derzeit was werden will, der muss einfach die Gewissheit ausstrahlen, dass Kunst kein Verfallsdatum hat.
Panikschreie bei der Vorführung
Wer hat an der Uhr gedreht?, möchte man also fragen im Anblick von Martin Scorseses großartigem, mit elf Oscar-Nominierungen bedachten 3D-Märchen „Hugo Cabret“, das nicht nur dem Pionier der Filmgeschichte, George Méliès, huldigt, sondern mit Filmzitaten jongliert wie mit bunten Bällen. Da baumelt der kleine Held Hugo irgendwann so hilflos an der großen Bahnhofsuhr wie einst Harold Lloyd. Und ein in den Bahnhof rasender Zug ist unter anderem Scorseses Verneigung vor den Kino-Erfindern Lumière, deren Zug-Szene bei der ersten Vorführung 1895 für Panikschreie sorgte.
Die Großen der Zunft scheinen an einen Punkt gekommen, wo es nicht mehr nur darum geht, technische Möglichkeiten auszuloten, Innovationsgeist zu zeigen. In diesem Jahr kann sich die Oscar-Jury deshalb wohl auch ein wenig als Retter bedrohter Kino-Erlebnisse sehen. Es geht wieder um die Fantasie, Magie, den Zauber der großen Bilder.
Wenn Technik Talent ersetzt
Man kann das angesichts der Weltlage zwischen Fukushima und Iran natürlich Eskapismus nennen, es haben schließlich auch schon Filme Oscars gewonnen, die sich mit den Auswirkungen des Irak-Kriegs und anderem Waffen-Wahnsinn beschäftigt haben. Aber das Alltagsausblenden war ja immer die Spezialdisziplin der Traumfabrik, die nach 100 Jahren eben mehr sein will als ein Hightech-Unternehmen, das Schauspieler-Mimik künftig scannen und auf dem Computer abspeichern kann.
Wie das ist, wenn die neue Technik plötzlich dieses besondere Talent ersetzt, das bringt Michel Hazanavicius’ zehnfach Oscar-nominierter Stummfilm „The Artist“ wunderbar auf den Punkt. Und vielleicht lieben sie ihn deshalb so sehr, diesen starrköpfig-schweigsam dahinsteppenden George Valentine, der einfach nicht kapieren will, dass auch sein vielsagendes Schwerenöter-Lächeln gegen ein paar belanglose Sätze keine Chance mehr hat. Würde „The Artist“ den Oscar als bester Film gewinnen – es wäre der erste Schwarzweiß- und Stummfilm seit 80 Jahren.
Die große Zeitmaschine Film
Die Chancen fürs Gestern stehen insgesamt nicht schlecht: Ob uns Woody Allen bei „Midnight in Paris“ nun mit Hilfe der großen Zeitmaschine Film auf einen Vergangenheitstrip durch Paris schickt, zu postumen Begegnungen mit Ernest Hemingway und Salvador Dali. Ob das Südstaatendrama „The Help“ uns noch einmal zurückführt in die Zeit der Rassentrennung in den 60er-Jahren. Oder ob Steven Spielberg einen feurigen Hengst namens Joey aus den Schützengraben des Ersten Weltkriegs hinaus in Sonnenuntergänge treibt, die wir seit „Vom Winde verweht“ nicht mehr im Kino gesehen haben: Alles weist hin auf eine tiefe Sehnsucht nach Vertrautheit und Verlässlichkeit. Das Höher, Schneller, Weiter dieser global-übergeschnappten Welt, es scheint in Hollywood eben ein wenig aus der Mode gekommen. Die Gegenwart, sie zumindest gehört in dieser Oscar-Nacht den Gestrigen.